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Move It

Konzeption der sozialtherapeutischen Rehabilitationseinrichtung „MOVE IT“ für junge Drogenabhängige in Trägerschaft der Drogenhilfe Inntal

1 Einleitung

1.1 Zielgruppe der Konzeption

Diese Konzeption dient in erster Linie den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der sozialtherapeutischen Rehabilitationseinrichtung „MOVE IT“ für junge Drogenabhängige, im Folgendem kurz „MOVE IT“ genannt, als Arbeitsgrundlage und Handlungsanleitung. Darüber hinaus stellt sie die Grundlage der Finanzierung dar und vermittelt ausführliche Informationen an die Fachöffentlichkeit. Um die Übersichtlichkeit zu erhalten, sind wesentliche Textpassagen durch eine größere Schrift hervorgehoben. Hintergrundinformationen sind hingegen eingerückt. Eine Kurzdarstellung wird die wesentlichen Aspekte von „MOVE IT“ in einer komprimierten Form vermitteln.

1.2 Bedarfsbeschreibung und Grundidee

In Oberbayern gibt es zur Zeit eine Vielzahl an stationären Therapieplätzen in Langzeittherapieeinrichtungen der medizinischen Rehabilitation. Darüber hinaus bietet die Drogenhilfe Schwaben (Kompass-Kompakt), der Bezirk Oberbayern (Uhland-Straße) und Daytop (Nockher-Straße) jeweils ein stationäres Kurzeittherapieangebot. Lediglich Con-drobs e.V. bietet bei Prima Donna und in der Übergangswohngemeinschaft sozialtherapeutische Maßnahmen zur Rehabilitation an. Die Wartezeiten für kurzzeit- und sozialtherapeutische Angebote betragen mehrere Monate.

Die Kapazität kann die Nachfrage weder in qualitativer noch in quantitativer Hinsicht befriedigen. Die meisten dieser Angebote liegen im Ballungsraum München, das übrige Oberbayern kann seinen drogenabhängigen Bürgern und Bürgerinnen kaum gemeindenahe Therapieplätze offerieren. Minderjährige Drogenabhängige können in keiner dieser Einrichtungen aufgenommen werden. Die nächstgelegene Einrichtung für jugendliche Drogenkonsumenten und Drogenkonsumentinnen liegt bei Frankfurt am Main.

Die Drogenhilfe Inntal hat erstmals in Süddeutschland eine gemeindenahe, stationäre, sozialtherapeutische Rehabilitationsmaßnahme für junge Drogenabhängige konzipiert. „Jung“ kann sich in diesem Zusammenhang nicht auf ein konkretes Alter beziehen, sondern beschreibt einen Entwicklungsstand (ca. 16 bis 26 Jahre).

Am Schnittpunkt von Jugend- und Drogenhilfe werden folgende grundlegenden Überlegungen realisiert:

  • Die Vernetzung mit anderen Angeboten der Jugend- und Drogenhilfe erlaubt den fließenden Übergang auf dem Weg zu einem drogenfreien Leben.
  • Die Niederschwelligkeit erleichtert die kurzfristige Erreichbarkeit.
  • Der Realitätsbezug ermöglicht einen fortlaufenden Entscheidungsprozeß, in dem unterschiedliche Phasen der Motivation, der Resignation und der Rückfälligkeit eingebettet sind.
  • Die Differenzierung der Therapieangebote, die Individualisierung der Maßnahmen, die Selbstorganisation der Strukturen und die Flexibilisierung der Aufenthaltszeit ermöglichen eine individuelle Entwicklung und Nachreifung von Identität und Persönlichkeit.
  • Die geschlechtsspezifische Arbeit erlaubt das adäquate Bearbeiten von Kriminalitäts- Prostitutions- und Mißbrauchserfahrungen und kann suchtdisponierende Rollenmuster verändern.

Das Therapieverständnis stützt sich auf die Wirksamkeit von therapeutischen Beziehungen und auf die Prinzipien der therapeutischen Gemeinschaft. Außerdem kommen der Diagnostik, der Zielbildung, der Indikationsstellung und der individuellen Therapieplanung besondere Bedeutung zu.

Die 26 psychologischen, sozialpädagogischen und erlebnistherapeutischen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen betreuen 72 Klienten und Klientinnen in drei Therapiephasen. Neben der Einzel- und Gruppentherapie bieten sie Familientherapie, Erlebnistherapie, private Arbeit, Freizeitgestaltung, sowie Ausdrucks- und Körpertherapie an. Die Schul-, Ausbildungs- und Berufsberatung, die Berufsfindung und -erprobung, die Schuldner- und Rechtsberatung sowie die medizinische Betreuung runden das Betreuungsangebot ab. Ex-User oder Ex-Userinnen können, fall sie über entsprechende Fähigkeiten und Erfahrungen verfügen, Planstellen für Diplom Sozialpädagogen oder Diplom Sozialpädagoginnen besetzen.

In einer prospektiven, multizentrischen Studie über Therapieabbrüche bei der stationären Behandlung von Drogenabhängigen wurden vom Institut für Therapieforschung in München die Effekte von Behandlungsmerkmalen analysiert. Dabei wurde deutlich, daß Einrichtungen durch nachfolgende Charakteristika eine deutlich höhere Haltequote aufweisen:

  • Sie gehören zu einer Therapiekette
  • Sie betreiben eine spezifische Klienten- und Klientinnenselektion
  • Sie führen häufiger erlebnispädagogische Maßnahmen durch
  • Ihr Therapieangebot ist in zeitlicher Hinsicht weniger umfangreich
  • Sie üben weniger Kontrollmaßnahmen aus
  • Sie führen keine Sanktionen durch
  • Bei der Entlassung von Klienten und Klientinnen sind diese selbst beteiligt
  • Es besteht eine Sperrfrist bei Wiederaufnahmen

In der hier konzipierten Einrichtung sind alle diese Charakteristika realisiert.

1.3 Regionalität

Im Sinne der Regionalisierung von Maßnahmen der Jugend- und Drogenhilfe werden Menschen aus den Landkreisen Rosenheim, Berchtesgadener Land, Traunstein, Miesbach, Bad Tölz und Wolfratshausen, sowie aus dem übrigen Oberbayern bevorzugt in die stationären Therapieangebote von „MOVE IT“ aufgenommen. Damit kann eine gemeinde- oder zumindest heimatnahe Hilfeform angeboten werden.

Die Nähe zum Wohnort ermöglicht das Einbeziehen des sozialen Umfelds in die therapeutischen Bemühungen und die Berufstätigkeit während der Maßnahme. Selbsthilfepotentiale des Klienten oder der Klientin können ebenso wie die des jeweiligen sozialen Umfelds beeinflußt, stimuliert und genutzt werden. Gleichzeitig kann die Integration in Selbsthilfegruppen gefördert, der Übergang zu einem neuen Lebensstil stützend begleitet und können dabei auftretende Probleme in ihrem aktuellen Bezug sozialtherapeutisch bearbeitet werden. Angehörige, Partner und Partnerinnen können in den Rehabilitationsprozeß eingebunden und Beziehungsprobleme aufgearbeitet werden.

2 Indikation und Aufnahme

2.1 Zielgruppe

Zielgruppe von „MOVE IT“ sind Jugendliche, Heranwachsende und Erwachsene, die unter einer psychischen und Verhaltensstörung in Form eines Abhängigkeitssyndroms leiden und sofort aus der Drogen- oder Haftszene aussteigen, sich stabilisieren, orientieren und Perspektiven für ihren weiteren Lebensweg entwickeln und realisieren wollen.

Die Diagnose Abhängigkeitssyndrom kann nur gestellt werden, wenn im Laufe des letzten Jahres vor dem Erstkontakt mindestens drei der folgenden Kriterien erfüllt waren:

  • Starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren
  • Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Substanzkonsums
  • Substanzgebrauch mit dem Ziel, Entzugssymptome zu mildern und der entsprechenden positiven Erfahrung
  • Ein körperliches Entzugssyndrom
  • Nachweis einer Toleranzentwicklung
  • Eingeengtes Verhaltensmuster im Umgang mit der entsprechenden Substanz
  • Fortschreitendes Vernachlässigen anderer Vergnügungen oder Interessen zugunsten des Substanzkonsums
  • Anhaltender Substanzkonsum trotz Nachweis eindeutiger schädlicher Folgen körperlicher, sozialer und psychischer Art

Die stationären Therapieangebote von „MOVE IT“ sind von ihrer Struktur und von ihren Inhalten für junge Menschen mit einem Abhängigkeitssyndrom von Opioiden, Kokain, Amphetaminen (Derivate), Barbituraten, Halluzinogenen, Cannabinoiden oder mit multiplem Substanzgebrauch konzipiert. Des weiteren können junge Drogenabhängige mit der Nebendiagnose einer Persönlichkeitsstörung adäquate Hilfe erhalten. In allen Projektteilen können Väter und Mütter zusammen mit ihren Kindern, sowie Paare gemeinsam aufgenommen werden.

2.2 Juristische Grundlagen

2.2.1 Hilfegewährung

Die Hilfestellung durch „MOVE IT“ erfüllt die Aufgabenstellung der Eingliederungshilfe, der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten und der Hilfe zur Erziehung im Sinne der §§ 39, 40, 72 BSHG und §§ 34, 35, 35a SGB VIII.

Die Dauer der Hilfestellung durch und bei „MOVE IT“ ist zeitlich nicht befristet. Sie ist solange zu gewähren, wie es die Besonderheit des Einzelfalls erfordert, vor allem aber so lange, als nach Art und Schwere der Symptomatik, Aussicht besteht, daß die Ziele der Hilfe erreicht werden können.

„MOVE IT“ fördert seelisch wesentlich behinderte Menschen, um die aus der jeweiligen physischen, psychischen oder sozialen Schädigung resultierenden funktionellen Beeinträchtigungen im Leben und im sozialen Verhalten auszugleichen, ihm oder ihr die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen, zu erleichtern oder zu erhalten, eine angemessene Verwirklichung allgemeiner Lebensinteressen und die Ausübung eines angemessenen Berufs zu ermöglichen sowie ihn oder sie soweit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen. Die pädagogischen und therapeutischen Angebote haben das Ziel, die Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und den Behinderten oder die Behinderte in die Gesellschaft einzugliedern.

Durch persönliche Beratung und Betreuung werden besondere soziale Schwierigkeiten abgewendet, beseitigt, gemildert oder wird deren Verschlimmerung verhütet.

In einer betreuten Wohn- und Lebensform oder im Rahmen einer intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung wird Kindern, Jugendlichen oder Heranwachsenden die notwendige und geeignete Hilfe zur Erziehung gewährt. Durch die Verbindung von Alltagserleben und pädagogischen sowie therapeutischen Angeboten werden die soziale Integration und eine eigenverantwortliche Lebensführung gefördert.

2.2.2 Strafrecht

„MOVE IT“ ist eine Rehabilitationseinrichtung im Sinne des § 35 Abs. 1 BtmG. Sie stellt eine sozialtherapeutische Behandlung bereit und ist von den zuständigen Kostenträgern anerkannt. Der Aufenthalt dient der Nachreifung der Persönlichkeit, dem Beginn einer straffreien Lebensbewältigung ohne Suchtmittel und damit der Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Die zuständige Vollstreckungsbehörde kann auf Antrag die Zurücksstellung einer Freiheitsstrafe zugunsten einer Therapie bei „MOVE IT“ verfügen.

Eine staatliche Anerkennung gemäß § 36 Abs. 1 BtmG wurde und wird von Drogenhilfe Inntal nicht angestrebt, da sie automatisch und zwingend dazu führt, daß der Aufenthalt bei „MOVE IT“ von vornherein auf die Strafe angerechnet werden muß. Dem entgegen steht die Erwartung, daß die Bereitschaft zur selbstständigen Mitwirkung an der Rehabilitation und damit an deren Erfolgsaussichten (Drogen- und Straffreiheit) größer ist, wenn der Aufenthalt nach erfolgreichem Abschluß der Therapie im Sinne des § 36 Abs. 3 BtmG angerechnet und die Restfreiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann.

Klienten und Klientinnen können die stationären Therapieangebote von „MOVE IT“ im Sinne einer einschlägigen Therapie- oder Bewährungsauflage nutzen.

2.3 Aufnahme

Die Aufnahme bei „MOVE IT“ ist durch ein unbürokratisches Verwaltungsverfahren schnell und ohne vorherige Kostenzusage möglich.

Menschen, die bei „MOVE IT“ aufgenommen werden möchten, können sich jederzeit telefonisch oder schriftlich bewerben. Dabei sind neben dem Namen, Vornamen, Geburtsdatum, Geburtsort und dem letzten Hauptwohnsitz auch Informationen über die Dauer und Art der Abhängigkeit, vorangegangene Therapien und drogenfreie Lebensphasen relevant.

Jeder Bewerber und jede Bewerberin soll sich nach dem Erstkontakt wöchentlich telefonisch oder schriftlich melden. Vor der möglichen Aufnahme, wird ein Termin zu einem Vorstellungsgespräch vereinbart.

Menschen, die schon einmal bei „MOVE IT“ gelebt haben, können ohne Wartezeit ein Vorstellungsgespräch vereinbaren.

Das Vorstellungsgespräch wird von einem Mitarbeiter oder einer Mitarbeiterin von „MOVE IT“ geleitet. Neben dem Bewerber oder der Bewerberin nehmen einige Klienten und Klientinnen daran teil. Gesprächsthema sind die bisherigen Erfahrungen mit Szene und Therapie sowie die Biographie des Bewerbers oder der Bewerberin. Kriterium für eine Aufnahmezusage ist die Eignung der Therapieangebote für die konkrete Hilfebedürftigkeit.

Eine Aufnahmezusage beinhaltet das Ergebnis der selektiven Indikationsstellung hinsichtlich des jeweiligen stationären Therapieangebots.

Am Aufnahmetag muß die Drogenfreiheit anhand einer Bescheinigung einer stationären Entgiftungseinrichtung oder der Toxikologischen Abteilung im Klinikum Rechts der Isar in München (ambulante Drogenfreiheitskontrolle) nachgewiesen werden. Inwieweit der Klient oder die Klientin eine Entzugsbehandlung in einem Krankenhaus oder die Entgiftung ohne professionelle Hilfe abgeschlossen hat, ist dabei irrelevant.

Zur Aufnahme soll, neben all den persönlichen Dingen des täglichen Lebens, ein Ausweis und ein Krankenschein mitgebracht werden. In der Verwaltung wird dann der Rehabilitationsvertrag besprochen und unterzeichnet, die Anmeldung bei der Gemeinde und beim Sozialhilfeträger vorbereitet und das Gepäck nach Alkohol, Medikamenten, Drogen und Waffen durchsucht.

Am Abend des Aufnahmetages stellt sich der neue Klient oder die neue Klientin in der jeweiligen therapeutischen Gemeinschaft vor.

Die Drogenhilfe Inntal stellt jedem Klienten und jeder Klientin ein Bett in einem eingerichteten Schlafzimmer oder in einer Kajüte zur Verfügung. Die Häuser und das Boot haben eine Küche, ein Eßzimmer, ein Wohnzimmer und sind mit dem notwendigen Inventar ausgestattet. Ausrüstung und Material, welches in der Erlebnisphase benötigt wird, steht ebenfalls zur Verfügung.

Im Laufe der ersten Aufenthaltswoche findet ein Erstgespräch mit dem zuständigen Einzeltherapeuten oder der zuständigen Einzeltherapeutin sowie mit einem Konsiliararzt für Psychiatrie und für Innere Medizin statt. Gleichzeitig meldet sich der neue Klient oder die neue Klientin bei der Gemeinde an und beantragt die Übernahme der Pflegekosten bei dem zuständigen Kostenträger. Unter Umständen ist darüber hinaus ein Gang zum Arbeitsamt oder zum Jugendamt unerläßlich.

2.4 Behandlungsziel

Der Aufenthalt bei „MOVE IT“ dient in erster Linie der Identitäts- und Persönlichkeitsnachbildung durch die Hilfe zur Selbsthilfe. Behandlungsziel ist die Herstellung, Wiederherstellung und Erhaltung der

  • physischen und psychischen Gesundheit,
  • körperlichen, geistigen und psychischen Leistungsfähigkeit,
  • sozialen und beruflichen Eingliederung sowie
  • der Erwerbsfähigkeit und -tätigkeit.

Diese Zieldefinition darf jedoch nicht zum Selbstzweck „verkommen“. Vielmehr stehen darüber hinaus zahlreiche Zwischenziele, wie die

  • Erlangung von Autonomie und Unabhängigkeit,
  • Aufarbeitung der individuellen Biographie,
  • Förderung und Entfaltung individueller Ressourcen,
  • Entwicklung von Entscheidungsfähigkeit und angemessener Risikobereitschaft,
  • Übernahme von Eigenverantwortung,
  • Veränderung des sozialen Bezugsrahmens und der Perspektiven,
  • Klärung von Beziehungen sowie
  • der Aufbau und Stabilisierung von Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen

im Vordergrund. Die Therapieziele werden durch die schrittweise Annäherung über die Zwischenziele errreicht.

3 Grundlegende Überlegungen

3.1 Vernetzung mit anderen Angeboten der Jugend- und Drogenhilfe

Die stationären Therapieangebote von „MOVE IT“ stehen am Schnittpunkt der Jugend- und Drogenhilfe. „MOVE IT“ kann nur dann ihre Aufgabe erfüllen, wenn sie in ein Verbundsystem eingebunden ist.

Sie arbeitet eng mit den Jugend- und Drogenberatungsstellen in Oberbayern sowie den zuständigen Kostenträgern zusammen. Als Entgiftungseinrichtungen stehen potentiellen Klienten und Klientinnen die Toxikologische Abteilung des Klinikums Rechts der Isar, die Entzugsabteilung „Die Villa“ des Städtischen Krankenhauses München Schwabing, die Bezirkskrankenhäuser Haar, Gabersee und Taufkirchen, sowie die Universitätsnervenklinik an der Nußbaumstraße in München zur Verfügung. Im Verlauf der adaptiven Indikationsstellung kann die Verlegung in eine andere Maßnahme der Jugend- oder Drogenhilfe oder die Aufnahme einer ambulanten Psychotherapie sinnvoll erscheinen. Daher unterhalten die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen gute Beziehungen zu anderen in Oberbayern ansässigen Einrichtungen und zu niedergelassenen Psychotherapeuten oder Psychotherapeutinnen. Gleiches gilt für ambulante und stationäre Nachsorgeangebote.

Der Therapieerfolg hängt entscheidend von der Zusammenarbeit aller an der Hilfegewährung beteiligter Träger, Institutionen und Menschen ab. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Drogenhilfe Inntal sind im Interesse ihrer Klienten und Klientinnen bemüht, diesen Anspruch durch den kollegialen Dialog mit allen relevanten Personen zu erfüllen. Daher werden nach jeder Aufnahme und vor jeder Entlassung Übergabegespräche zwischen allen beteiligten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen von „MOVE IT“ und von anderen Einrichtungen durchgeführt.

3.2 Niederschwelligkeit in der Erreichbarkeit

Der Entschluß zu einem drogenfreien Leben resultiert meist aus spontanen Überlegungen. Er ist fast immer ambivalent und mit vielen unterschiedlichen Wünschen, Erwartungen und Ängsten besetzt. Häufig sind momentane Notlagen (Inhaftierung, Überdosierung, Therapieabbruch, disziplinarische Entlassung, Rückfälligkeit) konkreter Anlaß für den Wunsch nach einer (weiteren) Therapie. Dieses Procedere stellt ausdrücklich eine legitime Ausgangsmotivation dar.

Die Aufnahme ist schnellst möglich und ohne vorherige Kostenzusage möglich. Sie setzt keine hohe Therapiemotivation, keine endgültige Entscheidung gegen ein Leben mit Drogen und keine Vorbetreuung voraus. Die Klienten und Klientinnen können noch wenige Tage vor der Aufnahme auf der Drogenszene leben, müssen nur kurzzeitig ambulant oder stationär entgiftet werden und müssen über keine Vorstellungen und Perspektiven für ein drogenfreies Leben verfügen. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen werden deshalb des öfteren auf eine äußerst destruktive Lebenshaltung, die durch viel Selbsthaß, Verzweiflung, Resignation und Rückzug gekennzeichnet ist, treffen. Dem gegenüber werden die Ressourcen, die bislang nicht oder nur unproduktiv genutzt werden konnten, gesehen.

Die Niederschwelligkeit beinhaltet eine große inhaltliche Nähe zur Drogenszene und zu deren Verhaltensmustern. Dennoch wird innerhalb von „MOVE IT“ ein drogen- und gewaltfreier Rahmen und eine Atmosphäre mit viel Geborgenheit, Sicherheit und Freiheit geschaffen werden.

3.3 Realitätsnähe und Rückfälligkeit

Die sozialtherapeutische Rehabilitation bezieht die vergangene, gegenwärtige und zukünftige soziale Realität der zu Betreuenden ein. „MOVE IT“ regt eine intensive Auseinandersetzung mit Themen und Menschen außerhalb der Einrichtung an. Damit können drogenabhängige Männer und Frauen früh an eine drogenfreie Bewältigung gesellschaftlicher Lebensrealitäten herangeführt werden. Das angestrebte Gleichgewicht zwischen der Konfrontation mit der „Innen- und Außenwelt“ erfordert eine sehr intensive Betreuung.

Langzeitstudien des Christoph-Dornier-Centrums für Klinische Psychologie in Münster belegen eindrucksvoll, daß Rückfälle bei Drogenabhängigen in der Regel kein prinzipielles Scheitern bedeuten. Sie stellen vielmehr normale Vorgänge auf dem Weg zu einer lebenslangen Abstinenz dar und sind in erster Linie Ausdruck kurzfristiger Überforderung in konkreten Risikosituationen. Entsprechend muß nach einem Rückfall nicht wieder mit einer langwierigen Betreuung von vorne begonnen werden; vielmehr kann sich die Rückfallbehandlung gezielt auf die suchtmittelfreie Bewältigung von persönlichen Rückfallrisikosituationen konzentrieren.

„MOVE IT“ schließt weder strukturell noch inhaltlich Risikosituationen aus. Vielmehr steht die Exposition in vivo unter Einbezug aller Beteiligten im Vordergrund. Dabei setzt sich der Klient oder die Klientin gezielt persönlich relevanten Versuchungssituationen unter realistischen Alltagsbedingungen aus, um deren suchtmittelfreie Bewältigung zu üben.

Ein Rückfall kann in der Regel durch eine interne Verlegung und durch die Intensivierung der therapeutischen Beziehung aufgefangen werden. Die Aufarbeitung des Rückfalls bewirkt, durch die Auseinandersetzung mit den gerade aktuell sichtbar gewordenen Mechanismen, unmittelbare Erkenntnisse und Einsichten in und über diesen psychodynamischen Prozeß. Lediglich in der Initialphase führt ein Rückfall zu einer sofortigen Entlassung. Eine bevorzugte Wiederaufnahme ist jedoch nach einer Sperrfrist von einer Woche möglich.

Nach Bekanntwerden eines Rückfalls werden in einem Einzelgespräch die Hintergründe  und Schuld- und Versagensgefühle sichtbar gemacht, bearbeitet und ggf. abgebaut. In einer anschließend stattfindenden Gruppensitzung wird der Rückfall hinsichtlich der Art des Bekanntwerdens, der Geschichte, des Hintergrunds und der zugrundeliegenden Dynamik reflektiert. Alternative Verhaltensweisen, weitere Perspektiven und mögliche Hilfestellungen werden besprochen. Dieses ausführliche Gruppengespräch dient auch der Verarbeitung der aufgewühlten Gefühle (Wut, Angst, Neid) der übrigen Gruppenmitglieder.

Süchtiges Verhalten wird als notwendiger Schutz vor Verletzung oder Enttäuschung und als individuelle Ressource respektiert und verstanden. Die Tendenz zur Suchtverlagerung kann in der Therapie als stabilisierendes Element für den Aufbau einer drogenfreien Lebensbewältigung genutzt werden.

Für viele drogenabhängige Männer und Frauen stellt die Möglichkeit, zusammen mit ihren Kindern in einer Einrichtung zu leben, erstmals eine adäquate Ausstiegshilfe dar. Die Entscheidung zu einer Therapie wird oft dadurch erschwert, daß drogenabhängige Eltern ihre Kinder nicht im Stich lassen wollen und es ihnen nicht gelingt, für die Therapiezeit eine für sie akzeptable Betreuungsmöglichkeit zu finden. Trotz der Mehrbelastung für die Väter und Mütter sind die Freuden, Schwierigkeiten und neuen Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit dem Kind ein wesentlicher Teil des Weges hin zu einem drogenfreien Leben.

Drogenabhängige Väter und Mütter können häufig kein konsequentes Erziehungsverhalten verwirklichen. So entstehen „Schaukelbeziehungen“ zwischen Vernachlässigung und Verwöhnung. Daher steht der Aufbau einer tragfähigen Vater- bzw. Mutter-Kind-Beziehung, die Abgrenzung von Bedrürfnissen des Vaters bzw. der Mutter und des Kindes und der Abbau von bereits entstandenen Entwicklungs-, Reifungs- und Erziehungsdefiziten bei den Kindern als zusätzliches Therapieziel im Vordergrund. Die Verantwortung für die Betreuung der Kinder verbleibt grundsätzlich bei den Vätern oder Müttern. Jeder Vater und jede Mutter kann zusammen mit seinem oder ihrem Kind in einem Zimmer leben. Die Kinder werden nach Möglichkeit in einen ortsansässigen Kindergarten oder Hort integriert. „MOVE IT“ stellt ihnen einen kindgerechten Lebensraum zur Verfügung.

3.4 Differenzierung der Therapieangebote

Die Intensität und Individualität der Betreuung erfordert eine Differenzierung des stationären Therapieangebots. Daher ist bereits vor der Aufnahme eine selektive Indikationsstellung notwendig. Ein späterer Wechsel in eines der anderen Angebote ist im Sinne einer adaptiv zu stellenden Indikation sinnvoll und möglich. Die Indikationskriterien sind unter dem Kapitel „Stationäre Therapieangebote“ beschrieben.

Die Projektteile (Phasen) sind hinsichtlich der Indikationsstellung, der Themen und der Strukturen differenziert. Daher sind in dieser Konzeption bestimmte Themenstellungen einer Therapiephase zugeordnet. Dies legt lediglich einen Schwerpunkt fest, schließt aber die Auseinandersetzung mit einem Thema in einem anderen Projektteil nicht aus. Diesem Modell der Integrativen Therapie folgend, stehen einem Klienten oder einer Klientin verschiedene offene Gruppen in der Initialphase, Erlebnisphase und Integrationsphase zur Verfügung.

  • Die Initialphase ist als Phase einer alten dysfunktionalen Ordnung durch die Exploration und das „Anwärmen“ gekennzeichnet. Hier wird die Ausgangssituation, die Problemkonstellation und werden wichtige Ressourcen deutlich.
  • Die Erlebnisphase schließt Chaos, Beunruhigungen, Krisen sowie das Wiedererleben und Durcharbeiten alter Dramen und Verletzungen ein. Dabei werden vergangene und aktuelle Beziehungen und Gefühle lebendig. Spaß und Befriedigung können aber ebenso erlebt werden.
  • Die Integrationsphase ist die Phase einer neuen Ordnung und ermöglicht das Verstehen und Integrieren bisher abgespaltener Gefühle und Verhaltensweisen. Beziehungen konstellieren sich neu, bisher verborgene Aspekte werden gesehen, das Erlebte wird verstanden und in Beziehung zu ähnlichen Erfahrungen gesetzt. Dabei ermöglicht die Konsolidierung und Neuorientierung die Festigung von Veränderungen, die Neuorientierung, den Aufbau neuer intensiver Beziehungen und die Ablösung aus der therapeutischen Gemeinschaft.

Die Symptomatik eines Abhängigkeitssyndroms läßt keine gemeinsame Grundstörung erkennen. Die Ursachen sind verschieden, die Ausprägung ist individuell und der Ausstiegsprozeß muß die persönliche Biographie, die betroffenen Lebensbereiche, die Erlebensmodalität, die Veränderungsbereitschaft, die Unterstützung enger Bezugspersonen und frühere Abstinenzversuche integrieren.

Eine genaue Analyse der persönlichen Bedingungen kann anfängliche Überforderungen und damit eine mögliche Ablehnung des Angebots oder dessen Abbruch vermeiden. Daher beginnt die indikationsgeleitete Therapieplanung vor der Aufnahme mit der Entscheidung über die erste Therapiephase.

Abhängigkeit darf trotz allem nicht nur als individuelles Problem mißverstanden werden, sondern muß in seinen biologischen, physischen, psychischen, sozialen und gesellschaftlichen Bezügen gesehen werden.

Ein elaboriertes, empirisch überprüfbares Indikationsmodell steht in der Behandlung und Betreuung von Drogenabhängigen nicht zur Verfügung. Insofern ist unter Indikationsstellung ein systematischer Annäherungsprozeß unter Berücksichtigung individueller Entwicklungen zu verstehen. Bei „MOVE IT“ ist es möglich, die Indikation durch das sukzessive Hinzufügen von therapeutischen Maßnahmen und die Verlegung in einen anderen Projektteil adaptiv zu stellen.

Im Regelfall wird ein neuer Klient oder eine neue Klientin in die Initialphase aufgenommen. Je nach Verlauf der adaptiven Indikationsstellung ist eine Verlegung in die Erlebnisphase oder direkt in die Integrationsphase vorgesehen. Der Zeitpunkt einer Verlegung ist ausschließlich an der individuellen Situation orientiert und wird zwischen dem zuständigen Mitarbeiter oder der zuständigen Mitarbeiterin und dem Klienten oder der Klientin vereinbart.

3.5 Individualisierung der Maßnahmen

Individuelle Ziele, Bedürfnisse und Prozesse stehen dem gemeinsamen Rahmen innerhalb eines stationären Therapieangebotes gegenüber. Dieses Spannungsfeld regt zur Auseinandersetzungen mit sich und anderen an.

In der Therapie konzentrieren sich die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen phasenweise auf bestimmte Aspekte der Klienten-Persönlichkeit. Die Auswahl hängt dabei von der Art der Störung, der diagnostischen Einschätzung, der theoretischen Vorstellung und von unseren Handlungskonzepten sowie von der Erfahrung ab.

Die Betreuungsangebote werden innerhalb der therapeutischen Gemeinschaft an die jeweiligen Bedingungen angepaßt. Die Gewichtung, Häufigkeit und Intensität von Einzel- und Gruppentherapie, Familien- und Erlebnistherapie, Arbeits- und Beschäftigungstherapie, Ausdruckstherapie, medizinische Betreuung, Schul-, Ausbildungs- und Berufsberatung sowie Berufsfindung und -erprobung ergeben sich aus der adaptiven Indikationsstellung in jedem Einzelfall. Individuelle Maßnahmen ermöglichen auf das jeweilige Individuum bezogene Interventionen.

Außer der Berufsfindung und -erprobung (Integrationsphase) werden alle hier genannten Betreuungsangebote sowohl in der Initialphase als auch in der Erlebnis- und Integrationsphase offeriert. Dennoch unterscheiden sich die Angebote hinsichtlich ihres Settings und des Realitätsbezuges. Durch die weiter oben beschriebene Differenzierung der Therapieangebote liegt die Häufung bestimmter Betreuungsangebote in einer Therapiephase nahe.

An dieser Stelle sei auch auf die Individualität von therapeutischen Beziehungen hingewiesen. Die Verschiedenartigkeit der Kommunikation und Interaktion zwischen dem Mitarbeiter oder der Mitarbeiterin und dem Klienten oder der Klientin ergibt sich aus den unterschiedlichen Wünschen, Bedürfnissen und Strukturen der Klienten und Klientinnen.

3.6 Selbstorganisation der Strukturen

Das Zusammenspiel verschiedenartiger Einflüsse läßt neue Organisationsformen innerhalb einer Therapiephase entstehen. Diese Entwicklung, hier Selbstorganisation der Strukturen genannt, entfaltet sich spontan im Spannungsfeld von Ordnung und Chaos. Durch die Kommunikation aller beteiligter Mitarbeiter, Mitarbeiterinnen, Klienten und Klientinnen entwickeln sich Strukturen von immer größer werdender Komplexität.

Das Leben und die Interaktionen innerhalb einer therapeutischen Gemeinschaft sind durch unterschiedliche Strukturen gekennzeichnet. Sie sind die tragende Ordnung, gleichzeitig die immer umfangreicher werdende Chronik des Systems und gestalten auf dieser Basis die weitere Zukunft.

Die Struktur einer therapeutischen Gemeinschaft erhält sich über eine gewisse Zeit selbst. Dabei durchläuft sie einen Prozeß dynamischer Ordnung mit kleineren Unregelmäßigkeiten und befindet sich nie in einem völlig stabilen, sondern immer in einem relativ labilen Gleichgewicht. Aufgrund einer nicht vorhersehbaren Eigendynamik kann sich die Struktur in ihrer Kausalität untypisch verändern. Deterministisches Chaos, in dem zwar Selbstähnlichkeiten, nicht aber lineare, das Gesamtsystem bestimmende Ursache-Folge-Beziehungen zu finden sind, entsteht.

Der Wechsel von Ordnung zu Chaos ist die Chance zur Umstrukturierung. Wenn der Austausch innerhalb einer therapeutischen Gemeinschaft nachhaltig gestört ist, aber noch auf die bewährte Art funktioniert, kann durch ein minimales Zusatzereignis Selbstorganisation als Übergangsphase zwischen den klar strukturierten Mustern des Vorher und Nachher entstehen. Dies wird als irritierend erlebt. Die zu erwartende Befriedigung stellt sich erst ein, wenn die bisherige Ordnung aufgegeben und ein neues, komplexeres Gleichgewicht gefunden werden konnte.

In Chaosphasen entstehen These und Antithese zwischen Erlaubtem und Verbotenem. Als Ergebnis derartiger Umbauvorgänge kommt es schließlich zu einer vorher nicht möglichen Synthese, zu einer Integration von Gegensätzen und damit zu neuen Strukturen. An diesem Prozeß sind alle Klienten, Klientinnen, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die in einer therapeutischen Gemeinschaft leben bzw. arbeiten, gleichermaßen beteiligt.

Neuentwicklung und Selbstorganisation ist nur im Zusammenspiel von Ordnung (Gesetzmäßigkeit) und Chaos (Zufall) sowie Kontinuität und Diskontinuität möglich. Die neue Gleichgewichtsgruppierung wird komplexer als die vorangegangene sein.

Jedem Komplexitätszuwachs geht ein mehr oder weniger tiefreichender Zerfall der bisherigen Ordnung voraus. Dieser ständige Um- und Weiterbau geschieht spontan durch das Zusammenwirken verschiedener Faktoren.

Ein mehr an Komplexität innerhalb einer therapeutischen Gemeinschaft bedeutet entweder die Vermehrung von Regeln auf einer gegebenen hierarchischen Ebene oder die Vermehrung der hierarchischen Ebenen selbst, oder beides zugleich. Dies erlaubt eine Vielzahl neuer Vernetzungen und feinere Abstimmungen zwischen den Gegebenheiten. Durch die Vernetzung aller Teile dieses Systems kann individuellen Bedürfnissen besser entsprochen werden.

Das Vermehren von Strukturen kann als Produktion, die immer wieder notwendige Bündelung entstandener Vielfalt als Reduktion bezeichnet werden. Jede Produktion erhöht die Vielzahl der Vernetzungen und der Elastizität hinsichtlich der individuellen Bedürfnisse nach Schutz, Sicherheit und Freiheit. Reduktion hingegen erhöht die Übersichtlichkeit und damit die Ökonomie. Beide Bewegungen ergänzen einander in ein und demselben Projektteil.

In diesem Sinne bedeutet Therapie Hilfe beim Aufgeben von überholten Strukturen, beim Aushalten von Chaos und bei der Entwicklung von neuer Selbstorganisation. Diese Vorgehensweise impliziert Einstellungen gegenüber Zuständen von Ordnung und Chaos kritisch zu überprüfen und ggf. neu zu definieren.

Auf dem Hintergrund sich selbst organisierender Strukturen innerhalb einer therapeutischen Gemeinschaft sind die Grundregeln für alle Klienten und Klientinnen von „MOVE IT“ verbindlich.

Ein größtmögliches Maß an Eigenverantwortung und Eigeninitiative soll gewahrt und gefördert werden, damit an die Stelle von „Du darfst“ ein „Ich will“ tritt. Zur Unterstützung gelten folgende Grundregeln:

  • Weder innerhalb noch außerhalb von „MOVE IT“ dürfen Drogen, Alkohol oder nicht verordnete Medikamente eingenommen, gebraucht oder auch nur besessen werden.
  • Die Androhung und das Anwenden von körperlicher Gewalt sowie der Besitz von Waffen sind verboten.

Ein Verstoß gegen diese Grundregeln führt in aller Regel zur sofortigen disziplinarischen Entlassung oder Verlegung. Eine Wiederaufnahme ist nach einer Woche möglich.

Die Drogenfreiheit wird durch unregelmäßige Urinkontrollen überprüft. Bei der Abnahme ist ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin anwesend.

3.7 Flexibilisierung der Aufenthaltszeit

Im Verlauf der adaptiven Indikationsstellung wird die Aufenthaltszeit in den einzelnen Projektteilen dem individuellen Entwicklungsstand angepaßt. Dadurch können Über- und Unterforderungen sowie unnötige Hospitalisierungseffekte vermieden werden.

Während des Aufenthaltes in den einzelnen Projektteilen wird überprüft, inwieweit gesteckte Therapieziele bereits erreicht wurden oder neue definiert werden müssen. Diese sollten dem Entwicklungspotential angemessen sein und die Art, das Ausmaß, die Schwere und die Dauer der Drogenabhängigkeit, andere Persönlichkeitsvariablen, soziale Umweltressourcen sowie Erfahrungen mit vorangegangenen Therapien und cleanen Lebensphasen berücksichtigen. Die Verlegung in einen anderen Projektteil sollte im Einvernehmen mit allen Beteiligten erfolgen und sich an den thematischen, strukturellen und therapeutischen Gegebenheiten orientieren.

Sobald sämtliche Therapieziele erreicht wurden, sollte die Entlassung vorbereitet werden. Gleiches gilt, wenn die Möglichkeiten der Hilfegewährung ausgeschöpft sind, und der Klient oder die Klientin aller Voraussicht nach nicht mehr nachhaltig von den Angeboten profitieren kann. Die im weiteren Verlauf dieser Konzeption beschriebenen Zeitangaben dienen lediglich einer ungefähren Planung der Kapazität der einzelnen stationären Therapieangebote.

3.8 Geschlechtsspezifische Arbeit

Durch die unterschiedliche Sozialisation von Männern und Frauen ergeben sich zum Teil evidente Unterschiede hinsichtlich der Kriminalitätsbelastung, Prostitutionserfahrung und sexueller Mißbrauchserlebnisse.

Innerhalb der therapeutischen Gemeinschaft leben und reagieren alle Beteiligten zunächst analog zu ihren Erfahrungen und Rollenmustern. Durch gezielte Interaktionen verdeutlichen die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen das jeweilige Rollenverhalten und machen es einer bewußten Überprüfung zugänglich. Der Klient oder die Klientin kann sich dann für oder gegen ein solches Rollenverhalten entscheiden. Der Kontakt zu stabilen Leitfiguren ermöglicht nötigenfalls die Übernahme alternativer Verhaltensweisen. Das Rollenbewußtsein wird transparenter, die Rollenflexibilität größer und das Verhaltensrepertoire abwechslungsreicher.

Viele drogenabhängige Männer und Frauen wurden als Kind oder Jugendliche sexuell mißbraucht. Häufig erlebten sie ohne Vorwarnung Gewalt. Diese traumatischen Erlebnisse stehen häufig in einem kausalen Zusammenhang zu einem späteren Abhängigkeitssyndrom.

In der Beziehung zu einem gleichgeschlechtlichen Einzeltherapeuten oder einer gleichgeschlechtlichen Einzeltherapeutin können die Klienten oder Klientinnen häufig erstmals ihre Erfahrungen benennen und die damit verbundenen Gefühle ausdrücken. In geschlechtsspezifischen Gruppen können sie die Solidarität von anderen erfahren, eigene Bedürfnisse, Ängste und Schwierigkeiten wahrnehmen und Schutz vor weiteren Verletzungen erleben. Zu einem späteren Zeitpunkt können diese in einer gemischtgeschlechtlichen Gruppe wiederholt und erweitert werden.

Die geschlechtsspezifische Arbeit konkretisiert sich darüber hinaus in konkreten Organisationsabläufen. So ist bei der Aufnahme und bei der Abnahme von Urinkontrollen immer ein gleichgeschlechtlicher Mitarbeiter oder eine gleichgeschlechtliche Mitarbeiterin anwesend.

4 Therapieverständnis

Die therapeutische Arbeit in den einzelnen Therapiephasen dient dem Ziel,

  • die gegenwärtige und lebensgeschichtliche Interaktionsfähigkeit zu verbessern,
  • die Fähigkeit zu Kontakt, Begegnung und Beziehung zu entwickeln und
  • spontane kreative Potentiale freizusetzen.

In jeder gelebten Beziehung werden Störungen der Interaktionsfähigkeit deutlich und wird Intersubjektivität als heilsame Modellerfahrung möglich. Beziehungen weisen immer Ähnlichkeiten mit früheren Beziehungen aus der Lebensgeschichte auf. Typische frühere Beziehungserfahrungen verdichten sich innerhalb der therapeutischen Gemeinschaft.

Der Verlauf der Therapie orientiert sich an der Bearbeitung dessen, was ist (Diagnose, Wahrnehmen, Erkennen), was war (Erinnern, Wiedererleben, Bearbeiten) und was sein soll (Zielbildung, Neuorientierung). Die Entdeckung der Zusammenhänge von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft eröffnen dem Klienten oder der Klientin auf dem Weg aus der Abhängigkeit immer neue Blickwinkel, die ihm oder ihr dazu verhelfen, erstarrte Strukturen zu lockern und Blockierungen in Fluß zu bringen.

Therapie ist eine Folge von Krisen am Halteseil der therapeutischen Beziehungen und verläuft zwischen Erschütterung und Konsolidierung. Die Arbeit in und an der Übertragung und in und an der Beziehung sowie die Arbeit mit dem Widerstand tragen ebenso wie das szenische Erleben von Vergangenem, das Erkennen von Strukturen, bislang unbekannte Qualitäten von Vertrauen, das Ausdrücken unbekannter Gefühle oder das Ausprobieren neuer Verhaltensweisen zu Erschütterungen der Persönlichkeitsstruktur und damit zu innerem und äußerem Wachstum bei. Erschütterungen, Störungen, Blockierungen und Widerstände sind wesentlicher Bestandteil des therapeutischen Prozesses. Sie sind, sofern sie erkannt und bearbeitet werden, Chance an der Schwelle zur Veränderung. Die Angst und der Widerstand des Klienten oder der Klientin bestimmen die Richtung und das Tempo des therapeutischen Prozesses. Hierbei ist es wichtig, Ängste zuzulassen, sie zu überwinden und zu bewältigen.

Der diagnostische und therapeutische Prozeß führt von der Wahrnehmung von Phänomenen über das Erfassen, hermeneutische Verstehen und Erklären zu den Persönlichkeitsstrukturen. Verschiedene therapeutische Techniken und unterschiedliche Medien verdeutlichen und verstärken die Phänomene und ermöglichen das szenische Erleben von Vergangenem und damit Regression.

Die Fähigkeit des Menschen zu Wahrnehmungen, Ausdruck und Gestaltung und die Fähigkeit, Neues zu erproben soll dabei verbessert werden. Exzentrizität, sich selbst und seiner oder ihre Umwelt in Vergangenheit und Gegenwart bewußt zu erleben, zu reflektieren und zu realisieren kann durch alternativer Entwürfe entwickelt werden. Regressive Fähigkeiten ermöglichen das emotionale Zurückgehen in frühere Szenen und Beziehungen und eröffnen damit die Chance einer emotionalen Neuerfahrung auf dem Hintergrund alter Szenen. Regression ermöglicht, indem heutige Befindlichkeiten mit vergangenen Szenen in Verbindung gebracht werden, das Verstehen aktueller Gefühle und Symptome. Diese Art des emotionalen Verstehens geht über das rein kognitive hinaus.

Der Weg in ein drogenfreies Leben schließt die Bewußtseinsarbeit, die Regression, die Katharsis, das Begreifen, das Verzeihen, die Sinnfindung und das emotionale Verstehen, die Nachsozialisation und die Bildung von Grundvertrauen, die Erlebnisaktivierung und die Persönlichkeitsentfaltung, sowie Solidarität und Engagement ein.

4.1 Therapeutische Beziehung

Die therapeutische Beziehung ist Rahmen, Basis und Medium des therapeutischen Entwicklungsprozesses. Beziehungsarbeit bedeutet ein Aufeinandereinlassen und sich Auseinandersetzen. Dabei wechselt der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin zwischen Involvierung (Betroffenheit), Zentrierung (bei sich selbst sein) und Exzentrizität (den Blickwinkel erweitern, Überblick gewinnen). Partielles Engagement beschreibt in diesem Zusammenhang die Flexibilität in der therapeutischen Beziehung. Für die Entwicklung von heilsamer Interaktion und Intersubjektivität ist es wichtig, den Klienten oder die Klientin da abzuholen, wo er oder sie steht, und den Therapieerwartungen zu entsprechen, ohne eigene Einstellungen und Überzeugungen aufzugeben.

Der Entschluß, einige Monate bei „MOVE IT“ leben zu wollen, setzt einen Vertrauensvorschuß an die Mitarbeiter und die Mitarbeiterinnen voraus. Der Klient oder die Klientin wird anfangs seine oder ihre Strategien und Strukturen für „unsichere Lebenslagen“ anwenden. Dabei muß das Stützsystem des Klienten oder der Klientin erhalten bleiben. Klarheit, Eindeutigkeit und Intersubjektivität ist in der Beziehung zum Klienten oder zur Klientin enorm wichtig. Daher muß alles, was gesagt wird, echt sein, aber nicht alles, was echt ist, muß gesagt werden. Dieses Prinzip der selektiven Offenheit oder der selektiven Authentizität ist wie das partielle Engagement besonders wichtig. Der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin ist in einer Expertenrolle und verfügt über Modelle zum Verständnis von Beziehungen und therapeutischen Entwicklungen. Er oder sie sollte in seinem oder ihrem Handeln möglichst einen Schritt hinter dem Klienten oder der Klientin bleiben, damit Vorstellungen, Szenen oder Gefühle, ohne eine Störung durch Deutungen, prägnant werden. Die Wünsche des Klienten oder der Klientin nach Sicherheit und Anleitung sollen, ohne eine dauerhafte Festlegung auf eine einseitige Rollenbeziehung, erfüllt werden. Dabei kann Freiheit und Selbstverwirklichung in einer zuverlässigen Beziehung, sowie die Konfrontation mit den eigenen Schwächen, der Scham, der Hilflosigkeit und der destruktiven Wut gefördert werden.

In der Beziehung und am Modell des Mitarbeiters oder der Mitarbeiterin kann der Klient oder die Klientin Integrationsfähigkeit entwickeln und lernen, sich selbst zu vertrauen und zu akzeptieren. Er oder sie wird im Laufe des Aufenthalts bei „MOVE IT“ unabhängiger, kann leichter auf andere zugehen, seine oder ihre Angst vor Zurückweisung vermindern und an Ich-Stärke gewinnen.

In jeder Beziehung werden neue und aktuelle Anteile, aber auch alte und bereits vergangene Erinnerungen erlebt und gelebt. Übertragung ist dabei die unbewußte Vergegenwärtigung alter Athmosphären und Szenen, so daß die Gegenwart verstellt wird und die Realität der anderen nicht gesehen werden kann. In einer Übertragung reproduzieren sich vergangene Beziehungsmuster. Übertragung und Beziehung stehen in der therapeutischen Gemeinschaft in einem dauernden Spannungsverhältnis. Übertragungsbeziehungen und die motivationalen Quellen können durch die Arbeit an der Beziehung, an der Übertragung, in der Übertragung und in der Beziehung zugunsten einer unverstellten Beziehung aufgelöst werden.

  • Die Arbeit an der Beziehung meint die Metakommunikation über die bei „MOVE IT“ gelebten Beziehungen. Der Therapieprozeß geschieht zwischen den Beteiligten in der jetzigen Situation.
  • Die Arbeit an der Übertragung ist ebenfalls ein metakommunikativer Prozeß, beschäftigt sich mit gegenwärtigen Beziehungen und deren Trübung durch frühere. Er dient der Auflösung der Übertragung. Der Klient oder die Klientin vermutet oder erkennt dabei eine frühere Szene oder andere Person. Alte Beziehungskonstellationen können sich mit gleichen oder umgekehrten Vorzeichen in der therapeutischen Gemeinschaft wiederholen. Der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin kann Gegenübertragungsreaktionen nutzen und die Übertragungsmuster direkt ansprechen. Er oder sie muß aber ebenso wie andere Klienten oder Klientinnen für Kritik offen bleiben.
  • Bei der Arbeit in der Übertragung ist die therapeutische Beziehung stärker durch die Rolle des Mitarbeiters oder der Mitarbeiterin bestimmt. Er oder sie verhält sich adäquat zu den Rollenerwartungen des Klienten oder der Klientin und versucht die Bedürfnisse emphatisch nachzuvollziehen. Durch Spiegelung, Beruhigung, Trost, Berührungen, Klarheit, Eindeutigkeit und klare Grenzen werden Defizite oder negative Erwartungen kompensiert.
  • Die Arbeit innerhalb einer guten, tragfähigen Beziehung setzt die Belastungsfähigkeit und Übertragungsarmut der therapeutischen Beziehung voraus. Der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin wird als eigene Persönlichkeit gesehen und angesprochen. Frühere oder aktuelle Beziehungssituationen können von dem Klienten oder der Klientin erinnert und durchgearbeitet werden.

Unter Gegenübertragung ist eine bewußtseinsfähige Resonanz und eine emphatische Reaktion des Mitarbeiters oder der Mitarbeiterin auf das, was der Klient oder die Klientin tut oder sagt zu verstehen.

In der konkordanten Gegenübertragungen fühlt der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin emphatisch mit. In der komplementären Gegenübertragung fühlt sich der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin wie der damalige Beziehungspartner oder die damalige Beziehungspartnerin des Klienten oder der Klientin. In der reziproken Gegenübertragung fühlt sich der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin so behandelt, als ob er oder sie in einer früheren Rolle des Klienten oder der Klientin sei. Der Klient oder die Klientin übernimmt dabei eine Komplementärrolle.

Gegenübertragung ergibt sich als Rolle und Komplementärrolle aus dem szenischen Charakter des Verhaltens und des Erlebens. Erst wenn der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin die Szenen versteht, kann er oder sie diese Rolle aufdecken.

Die Übertragung des Mitarbeiters oder der Mitarbeiterin ist eine unbewußte, in der Eigenproblematik des Mitarbeiters oder der Mitarbeiterin begründete, notorische Übertragung. Sie beruht auf neurotischen Anteilen, behindert den therapeutischen Prozeß und verhindert intersubjektive Beziehungen. Ein hohes Maß an Selbstkontrolle und ethischer Verantwortlichkeit ist ebenso notwendig, wie die kontinuierliche solidarisch-kritische Zusammenarbeit im Team und in der Supervision, damit Übertragungen des Mitarbeiters oder der Mitarbeiterin bewußt werden und aufgelöst werden können.

Widerstand ist die positive Fähigkeit, sich gegen Einflüsse auf das Selbst und die Identität zur Wehr zu setzen und sich zu schützen. Er dient der Abwehr von Angst und von schmerzlichem Erleben. Pathologisch ist Widerstand, wenn er starr und rigide ist, keine Offenheit für Veränderungen zuläßt und in eingefahrenen Abwehrstrategien mündet. Widerstand als Schutz innerhalb der Person wird als intrapersoneller, Widerstand als Schutz in der Beziehung zu anderen als interpersoneller Widerstand bezeichnet.

Widerstand läßt sich nur durch Sicherheit auflösen. Voraussetzung dafür ist das Akzeptieren und das Verstehen des Widerstands. Ihn frontal anzugehen ist in aller Regel nicht günstig, weil er sich dadurch häufig verstärkt. Vielmehr ist es sinnvoll, den Widerstand abzuschmelzen bzw. vor dem Widerstand zu arbeiten. Dabei wird der Klient oder die Klientin in gangbaren Schritten in Einzel- oder Gruppengesprächen an ein angstbesetztes Gebiet herangeführt, und es werden schwierige Themen oder Gefühle in kleinen Portionen nahe gebracht.

Therapie muß leibliche Beziehungsformen integrieren, da alle früheren fundamentalen Beziehungen und Schädigungen leiblich sind, und ansonsten neue Abspaltungen oder Beziehungslosigkeit entsteht. Körperliche Kontakte ergeben sich im Rahmen körpertherapeutischer Interventionen oder direkt aus der Beziehung zwischen Mitarbeiter oder Mitarbeiterin und Klient oder Klientin heraus.

Die spontane menschliche Geste aus affektiver Betroffenheit von Seiten des Mitarbeiters oder der Mitarbeiterin ist nur dann stimmig, wenn und soweit diese Nähe der Beziehung zwischen Klient oder Klientin und Mitarbeiter oder Mitarbeiterin entspricht, wenn sie von beiden gewollt wird und notwendige ethische Grenzen nicht überschreitet.

Heilsame therapeutische Beziehungen entwickeln sich über die Konsonanz zwischen Klient, Klientin, Mitarbeiter oder Mitarbeiterin. Dabei ist die Unterstützung, das Verständnis, das Mitgefühl des Mitarbeiters oder der Mitarbeiterin ebenso relevant wie das Erkennen und Annehmen auf Seiten des Klienten oder der Klientin.

Aufbauend auf der Konsonanzerfahrung kann die Erfahrung von Dissonanz durch Konfrontation oder Konflikte zu einer bedeutsamen Erfahrung werden. Daraus kann die Fähigkeit des Klienten oder der Klientin, sich selbst zu verstehen, Mitgefühl für sich selbst zu entwickeln und zu akzeptieren, wachsen. Die Erfahrung, daß Dissonanzen die Beziehung nicht stören, ermöglicht es dem Klienten oder der Klientin, eigene Dissonanzen innerhalb der Persönlichkeit auszuhalten und zu integrieren.

In der Therapie läßt sich die direkte Beziehungsarbeit zwischen Mitarbeiter, Mitarbeiterin, Klient oder Klientin von der inneren Beziehungsarbeit zwischen Klient oder Klientin und nicht direkt anwesenden Personen aus dem Leben und der Geschichte unterscheiden. Beide Prozesse bedingen einander und greifen ineinander ein. Störungen im Hier und Jetzt der direkten Beziehung werden vorrangig bearbeitet, da sie tiefere Einsichten in die inneren Beziehungsprozesse ermöglichen und die Bearbeitung inneren Materials unter Einwirkung dieser Störungen nicht möglich wäre.

Durch das Erleben von spezifischen Phänomenen des Klienten oder der Klientin können die Strukturen der Persönlichkeit erkannt werden. In diesen typischen Szenen waren früher mehrere Personen involviert, heute übernimmt der Klient oder die Klientin alle Rollen selbst und erlebt die Rekonstruktion vergangener Szenen in sich oder in ihr selbst.

Im Therapieprozeß werden diese inneren Szenen bewußt konkretisiert, verleiblicht, dargestellt und somit als frühere Interaktionen verstehbar. Aus der intrapersonellen wird wieder eine interpersonelle Dynamik.

Die therapeutische Arbeit verläuft auf vier unterschiedlichen Ebenen der Tiefung. Tiefung beschreibt die Gefühlsintensität und hängt mit dem Maß an rationaler Kontrolle zusammen. Dieses behandlungstechnische Konzept ist von den Überlegungen zur Regression und damit von der Gefühlsintensivierung und dem Wiedererleben alter Szenen abgeleitet. Tiefung meint immer eine zeitweilige und gewollte Regression in der Therapie und setzt die Lockerung der Situations-Kontrolle voraus.

In der Ebene der Reflexion beschreibt der Klient oder die Klientin relativ sachliche aus einiger Distanz zum Geschehen seine oder ihre Situation. Die Ebene der Affekte und lebhaften szenischen Vorstellungen ist durch eine stärkere emotionale Beteiligung des Klienten oder der Klientin gekennzeichnet. Die Ebene der emotionalen Involvierung setzt die Lockerung des Realitätsbezuges sowie ein weitgehendes Einlassen auf szenische Vorstellungen voraus. Dabei ist bzw. fühlt sich der Klient oder die Klientin in der damaligen Szene oder Rolle, der zeitliche und emotionale Abstand ist aufgehoben. Die Ebene der autonomen Körperreaktionen ermöglicht intensivste Gefühle, wobei die Reflexions- und Kontrollfähigkeit der Körperfunktionen sehr eingeschränkt ist.

Die Entscheidung, welche Ebene der Tiefung gewählt wird, ist vom gesamten situativen und zeitlichen Rahmen, von der Phase des Prozesses, der Tragfähigkeit der Beziehung, der Angst des Klienten oder der Klientin sowie von der Art und dem Ausmaß der Schädigung abhängig.

4.2 Therapeutische Gemeinschaft

Die Initialphase ist in vier Häusern mit jeweils sechs Menschen, die Erlebnisphase ist auf einem Boot mit zwölf Menschen und die Integrationsphase ist in zwölf Häusern mit jeweils drei Menschen realisiert und nach den Prinzipien der therapeutischen Gemeinschaft organisiert. In den zum Teil geschlechtsspezifischen Wohn- und Lebensräumen können sich die Klienten und Klientinnen weitgehend selbst verwalten und versorgen. Die Wohn- und Lebensräume stellen einen Rahmen dar, in dem ein geborgenes, partnerschaftliches und ehrliches Miteinander entstehen kann und alternative Erfahrungen gemacht werden können.

Grundlage der Arbeit in den therapeutischen Gemeinschaften ist das Wechselspiel zwischen der Innengruppe (Klienten und Klientinnen) und der Außengruppe (Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen) sowie zwischen dem Leben in der Gruppe und dem Leben in dem „auf sich selbst zurückgeworfen sein“. Aus der Dynamik zwischen Innen- und Außengruppe entsteht das durch Klarheit, Offenheit und Ehrlichkeit in den sozialen Beziehungen gekennzeichnete therapeutische Milieu.

Das therapeutische Milieu wird durch das gemeinsame Wertesystem und durch das Spannungsfeld, welches durch ständige Herausforderungen einerseits und eine wärmende Geborgenheit andererseits entsteht, wirksam.

Die therapeutische Gemeinschaft gibt neuen Klienten und Klientinnen ein überschaubares soziales Feld vor, in dem Vertrauen entstehen kann und Nachsozialisation möglich ist. Das Einhalten bestehender Normen und Regeln, die Förderung von Eigeninitiative, das Angebot zur Selbsthilfe und die gemeinsame Bewältigung des Hausalltags schaffen Reibungspunkte und Konflikte, die aufgearbeitet werden können. Die Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen Wertestruktur ermöglicht in einer angstreduzierten Umgebung das ehrliche Angehen und Überwinden von Defiziten. Sinnfindung kann in Abgrenzung zu der benutzten Droge erlebt werden. Die inneren und äußeren Konflikte werden in der Einzel- oder Gruppenarbeit thematisiert und durchgearbeitet. Erfahrungen von anderen Klienten oder Klientinnen fließen dabei im Sinne einer Vorbildfunktion mit ein. Daran anknüpfend werden wiederum Ansätze zur Selbsthilfe gefördert.

In der Interaktion mit anderen Klienten und Klientinnen wiederholen und rekonstituieren sich traumatische Situationen aus der Biographie (Übertragung), die mit Hilfe der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen neu erlebt und bewältigt werden können. Trauerarbeit über die ursprüngliche Situation wird möglich.

Die therapeutische Gemeinschaft ermöglicht den Erwerb von Einstellungen, Werthaltungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten für eine selbstverantwortliche und unabhängige Begegnung und Auseinandersetzung mit der eigenen Wirklichkeit und der persönlichen Biographie. Eigenverantwortung auf der Grundlage einer veränderten, nachgereiften, sich selbst stabilisierenden und weiterentwickelnden Persönlichkeit stärkt die Selbsterhaltungs- und Selbstentwicklungskräfte.

4.3 Diagnostik

Diagnostik bedeutet das Erkennen, Benennen, Zuordnen und Erklären der Probleme und Stärken der Klienten und Klientinnen. Dabei ordnet der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin wahrgenommene Phänomene in ein Ordnungssystem und entwirft zusammen mit dem Klienten oder der Klientin therapeutische Handlungsstrategien im Sinne eines systematischen theoriegeleiteten Erkenntnisprozesses. Diagnostik hat dabei die Funktion, eine allgemeine Orientierung über die biographische Entwicklung, Suchtgenese und derzeitige Lebenssituation zu ermöglichen sowie Indikationen abzuklären und konkrete Behandlungsschritte und zusätzliche Hilfsangebote zu planen. Darüber hinaus dient sie dem Eruieren des individuellen Erwartungshintergrundes, möglicher Widerstände und Kooperationsangebote.

Der diagnostische Prozeß ist ein Wechselspiel von, Zentrierung und Exzentrizität. Er konkretisiert sich bei „MOVE IT“ in einem Bereich der symptombezogenen Diagnose und einem Bereich der prozessualen Diagnostik. Beide Blickwinkel sind eng miteinander verzahnt, der eine ist ohne den anderen nicht vorstellbar.

4.3.1 Multiaxiale Symptom-Diagnostik

Das diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen stellt diagnostische Kriterien und klare Beschreibungen diagnostischer Kategorien zur Verbesserung der Zuverlässigkeit diagnostischer Urteile bereit. Damit kann das Vorhandensein oder Fehlen spezifischer Symptome festgestellt und dies als Kriterium für die Diagnosestellung verwendet werden .

Der Gebrauch dieses Manuals setzt die multiaxiale Beurteilung jedes Einzelfalls voraus. Dabei werden unterschiedliche Informationen über einen Klienten oder eine Klientin auf fünf Achsen dargestellt und somit sichergestellt, daß allen wesentlichen Aspekten bei der Beurteilung gleiche Aufmerksamkeit gewidmet wird.

Mehrfachdiagnosen können, um den gegenwärtigen Zustand zu beschreiben, gestellt werden. Dabei gilt diejenige als Hauptdiagnose (Vermerk), die Anlaß zur Aufnahme war. Diagnostische Unsicherheiten können durch den Zusatz „vorläufig“, der Grad der diagnostischen Sicherheit kann durch verschiedene Optionen gekennzeichnet werden.

Die derzeitige Schwere jeder einzelnen Störung kann nach der Diagnosestellung unter Verwendung der Begriffe leicht, mittel, schwer, partiell remittiert, Residualzustand oder voll remittiert bestimmt werden. Die Beurteilung bezieht sich dabei auf jede aus der Störung resultierenden Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit und der gewohnten sozialen Aktivitäten oder Beziehungen.

4.3.1.1 Achse I: Psychische Störung

Die Achse I stellt die Klassifikation der psychischen Störung sowie die klinischen Syndrome und Störungen dar.

Da unseres Erachtens das ICD-10 Kapitel V Störungen durch psychotrope Substanzen differenzierter beschreibt und somit eine genauere Diagnose ermöglicht, werden für die Diagnose einer Störung durch psychotrope Substanzen die klinischen Charakteristikas und diagnostische Leitlinien der internationalen Klassifikation psychischer Störungen verwendet. Der diagnostische Überbau wird aus den diagnostischen Kategorien des DSM-III-R abgeleitet. Gleiches gilt für weitere Haupt-, Neben- bzw. Zusatzdiagnosen.

In den letzten drei Jahrzehnten bemühte sich die Abteilung für psychische Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) um die Verbesserung der Diagnostik und der Klassifikation psychischer Störungen. Einen großen diesbezüglichen Fortschritt stellt die jetzt vorliegende veröffentlichte Version der klinisch-diagnostischen Leitlinien dar. Mit ihr ist die Hoffnung verbunden, daß eine international verwendete Klassifikation und Sprache die Behandlung von Personen mit psychischen Störungen oder Drogenproblemen verbessert.

Der Begriff Störung wird in der gesamten Klassifikation verwendet, um den problematischen Gebrauch von Ausdrücken wie Krankheit oder Erkrankung weitgehend zu vermeiden. Störung ist kein exakter Begriff; seine Verwendung soll einen klinisch erkennbaren Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten anzeigen, der immer auf der individuellen und oft auch auf der Gruppen- oder sozialen Ebene mit Belastungen und Beeinträchtigungen von Funktionen verbunden ist.

Für jede Störung werden wesentliche klinische Charakteristika beschrieben. Die diagnostischen Leitlinien geben dann die Anzahl und die Gewichtung der Symptome an, die zur Stellung einer sicheren Diagnose erforderlich sind. Falls die in den diagnostischen Leitlinien beschriebenen Voraussetzungen vollständig erfüllt sind, kann die Diagnose als sicher betrachtet werden. Sofern die Voraussetzungen nur teilweise erfüllt sind, die noch fehlenden Informationen aber wahrscheinlich ergänzt werden können, kann der Begriff „vorläufig“, für den Fall, daß weitere Informationen nicht eingeholt werden können, der Begriff „Verdacht auf“ verwendet werden.

Die Klassifikation einer Störung erfolgt durch einen fünfstelligen Kode. Die erste Stelle beschreibt das entsprechende Kapitel im ICD-10, die zweite die übergeordnete Kategorie und die weiteren eine konkrete Störung und deren Differenzierung. Um eine Diagnose nach Kapitel V (F) der ICD-10 zu verschlüsseln, soll sowohl die Kodenummer, als auch die ausgeschriebene Diagnose notiert werden.

Die Einteilung des Abschnitts über psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen unterscheidet sich von den anderen dadurch, daß die betreffende psychotrope Substanz mit der dritten und die Störung selbst mit der vierten und fünften Stelle gekennzeichnet wird.

Die Beschreibung eines klinischen Bildes erfordert häufig die Verschlüsselung mehrere Diagnosen, wobei zwischen einer Haupt- und Neben- bzw. Zusatzdiagnose unterschieden wird. Priorität sollte die Diagnose erhalten, der die größte aktuelle Bedeutung zukommt, und die häufig zum Kontakt mit der betreffenden Insititution und damit zur ambulanten, teilstationären oder stationären Behandlung geführt hat.

Unter dem Oberbegriff „Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen“ sind verschiedene Störungen beschrieben, deren Schweregrad von einer unkomplizierten Intoxikation und schädlichen Gebrauch bis zu einem Abhängigkeitssyndrom mit ständigem Substanzgebrauch reicht.

Die Identifikation der verwendeten psychotropen Substanzen beruht meist auf Angaben des Klienten oder der Klientin, sollte aber wenn möglich aus mehreren Quellen Bestätigung finden.

Viele Konsumenten nehmen mehrere Substanzen zu sich, die Diagnose sollte sich dennoch auf den wichtigsten Stoff beziehen. Gegebenenfalls können mehrere gleichlautende Diagnosen in Bezug auf unterschiedliche Stoffgruppen gestellt werden. Nur wenn die Substanzaufnahme chaotisch und wahllos verläuft, oder wenn Bestandteile verschiedener Substanzen untrennbar vermischt sind, ist die Kodierung F19 (multipler Substanzgebrauch) zu wählen.

4.3.1.2 Achse II: Entwicklungs- und Persönlichkeitsstörungen

Auf Achse II werden Entwicklungs- und Persönlichkeitsstörungen aufgeführt und können spezifische Persönlichkeitszüge oder bestimmte Abwehrmechanismen vermerkt werden.

Adäquate Hilfsangebote für Drogenabhängige zu erschließen (Indikationsstellung), setzt die genaue Diagnose der vorhandenen Störung voraus. Viele Klienten und Klientinnen leiden nicht nur an einer Abhängigkeitsproblematik, sondern darüber hinaus an einer Persönlichkeitsstörung. Die Beschreibung dieses Grenzbereichs ist besonders schwierig. Für die Praxis sind daher die hier vorgestellten klinischen Standards und diagnostischen Leitlinien besonders relevant.

Die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung beschreibt meist lang anhaltende Zustandsbilder und Verhaltensmuster, die Ausdruck des charakteristischen, individuellen Lebensstils sowie des Verhältnisses zur eigenen Person und zu anderen Menschen sind und mehrere Bereiche der Persönlichkeit betreffen. Dabei kann, gegenüber der Mehrheit der jeweiligen Bevölkerung, eine deutliche Abweichung im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und in Beziehungen zu anderen in Form anhaltend starrer und tief verwurzelter Verhaltensmuster, die mit persönlichen und sozialen Beeinträchtigungen einhergehen, festgestellt werden.

Die Zustandsbilder werden nach den vorherrschenden Verhaltensweisen klassifiziert und sind nicht auf Hirnschädigungen oder -krankheiten oder auf eine andere psychiatrische Störung zurückzuführen.

Das abnorme Verhaltensmuster ist tiefgreifend und andauernd, nicht auf Episoden psychischer Störungen begrenzt, in vielen persönlichen und sozialen Situationen eindeutig unpassend und durch deutliche Unausgeglichenheit in den Einstellungen und im Verhalten in mehreren Funktionsbereichen wie Affektivität, Antrieb, Impulskontrolle, Wahrnehmen und Denken, sowie in den Beziehungen zu anderen gekennzeichnet.

Die Störung beginnt in der Kindheit oder Jugend und manifestiert sich auf Dauer im Erwachsenenalter. Sie führt, manchmal erst im späteren Verlauf, zu deutlichem subjektiven Leiden und ist meistens mit deutlichen Einschränkungen der beruflichen Leistungsfähigkeit, der sozialen Anpassung und anderen subjektiven Beschwerden verbunden.

4.3.1.3 Achse III: Körperliche Störungen

Alle bestehenden körperlichen Störungen, die für das Verständnis und die Betreuung bzw. Behandlung des Klienten wichtig sind, können auf Achse III beschrieben werden. Häufig sind hier Infektionskrankheiten, Abszesse und Entzugssymptome, aber auch ätiologisch relevante Befunde von einem Internisten vor Ort aufzuzeichnen.

4.3.1.4 Achse IV: Psychosoziale Belastungsfaktoren

Der Schweregrad eines oder mehrerer psychosozialer Belastungsfaktoren, die im Jahr vor der Beurteilung zum Ausbruch einer neuen, zum Wiederauftreten einer früheren oder zur Verschlimmerung einer bereits bestehenden psychischen Störung beigetragen haben, können anhand einer Ratingskala auf Achse IV dargestellt werden.

Die spezifischen Belastungsfaktoren werden nach aktuellen Ereignissen und länger andauernden Umständen bzw. Lebensbedingungen spezifiziert und in der Reihenfolge ihrer Bedeutung aufgelistet. Die Schweregradbeurteilung sollte sich an dem Ausmaß der Belastung einer Normalperson, nicht aber an der individuellen Vulnerabilität, orientieren.

Dabei kann auf relevante Typen von psychosozialen Belastungsfaktoren wie Partnerbeziehungen, elterliche Beziehungen, andere zwischenmenschliche Probleme, berufliche Aspekte, allgemeine Lebensumstände, Finanzen, rechtliche Aspekte, körperliche Krankheiten oder Unfälle und den Entwicklungsverlauf Bezug genommen werden.

4.3.1.5 Achse V: Psychosoziales Funktionsniveau

Die Achse V erlaubt, über die Einschätzung des psychosozialen Funktionsniveaus bzw. der sozialen Anpassung, eine Gesamtbeurteilung der psychischen Gesundheit. Dabei findet die Global Assessment of Functioning Scale Anwendung.

Die Beurteilung des derzeitigen Funktionsniveaus gibt über den Behandlungs- bzw. Betreuungsbedarf, das höchste Niveaus der psychosozialen Anpassung im letzten Jahr über die Prognose hinsichtlich des zu erreichenden Niveaus nach der Remission Aufschluß.

4.3.2 Prozessuale Diagnostik

Die prozessuale Diagnostik begleitet den gesamten Therapieprozeß und beteiligt den Klienten oder die Klientin und den Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin an sich. Am Anfang und in kritischen Phasen ist sie intensiver und systematischer als im weiteren Verlauf des Aufenthalts bei „MOVE IT“.

Wesentlichste Grundlage ist das Verstehen und die Entwicklung von Erkenntnis durch phänomenologische Analyse im hermeneutisch deutenden Kontext. Der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin muß die Ursachen- und Entwicklungsgeschichte des Symptoms zu verstehen suchen, um es einordnen zu können. Von der Wahrnehmung von Phänomenen gelangen die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen über das Erfassen und Verstehen ihres Sinns und ihrer Entstehungsgeschichte zu den Strukturen der Persönlichkeit. Dabei stellen sie Sinnzusammenhänge und Beziehungen zwischen Symptomen, Verhaltens-, Erlebensweisen und der Lebensgeschichte des Klienten oder der Klientin her und können Phänomene im Zusammenhang der Persönlichkeitsstruktur erkennen, die finale Ursache von Abwehr im Sinne einer „wozu-Interpretation“ darstellen, die kausale Ursache eines Verhaltens im Zusammenhang mit einer ursprünglichen Szene verstehen und durch Empathie, Identifizierung, Komplementärrollen und Gegenübetragungen die Phänomene athmosphärisch und szenisch erfassen.

Die prozessuale Diagnostik dient als Werkzeug, zur Planung und zur Durchführung des therapeutischen Veränderungsprozesses. Dabei konzentrieren sich die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf alle möglichen Arten von Lebensäußerungen, Verhaltenweisen, Affekte, Empfindungen, Kognitionen und Vorstellungen.

Diagnostik und Therapie sind fortlaufend im Sinne einer Rückkopplung miteinander verzahnt. Der therapeutische Prozeß wird somit als Problemlöseprozeß und als schrittweise Strategie vom Ausgangszustand zur Erprobung und zur erfolgreichen Durchführung von Lösungsalternativen verstanden.

Zu Beginn der Behandlung werden alle im Zusammenhang mit der sozialen, materiellen, physischen, psychischen und biographischen Situation des Klienten oder der Klientin stehenden Daten erhoben. Durch und in den einzelnen Betreuungsangeboten werden die Fähigkeiten und Defizite des Klienten oder der Klientin schnell deutlich. Die Alltagsorientiertheit und Realitätsnähe von „MOVE IT“ erhöht die Relevanz dieser Informationen.

Problematische Verhaltensmuster ("süchtiges" Verhalten) werden nicht durch Verbote (Kontakt- und Ablenkungsverbot) oder durch Überstrukturierung des Tagesablaufs (Käseglockenprinzip) in den Hintergrund verbannt, sondern können aufgedeckt und transparent gemacht werden. An dieser Stelle soll nicht über Abhängigkeiten geredet werden, die unter Umständen von „MOVE IT“ selbst erzeugt wurden.

Mit der Zeit werden die aktuellen Problemfelder deutlich und können einer weiteren Analyse zugänglich gemacht werden. In diagnostischer wie auch in motivationaler Hinsicht ist es sehr wichtig, unproblematische Verhaltensweisen, Fähigkeiten und Ressourcen nicht aus der Betrachtung auszuklammern.

Die Lebensweltanalyse erlaubt eine differenzierte Beschreibung der subjektiven, sozialen und objektiven Welt.

Auf verschiedenen Ebenen werden die einzelnen (Sub-)Systeme, in denen der Klient oder die Klienten sich aufhält, und die Faktoren, die unmittelbar und mittelbar auf den Klienten oder die Klientin einwirken, untersucht. Die Mikroebene umfaßt den unmittelbaren persönlichen Bereich, wie die familiäre Situation, die Arbeitssituation, das soziale Setting und das Werte- und Normensystem. Die Mesoebene beschreibt die Schichtzugehörigkeit, das Milieu, die soziale Lage und die beruflichen Perspektiven. Die Makroebene umfaßt die allgemeine soziale, politische, ökologische und wirtschaftliche Situation. Darüber hinaus sind Zeitgeistphänomene und Lebensstile relevant.

Die Ressourcenanalyse bezieht sich auf unproblematische oder adäquate Verhaltensmuster. Einerseits wird dadurch ein zu einseitiger Blick auf defizitäres Verhalten verhindert, andererseits können durch Vergleich einzelner Bestandteile der Analyse mit dem problematischen Verhalten Hinweise für Ursachenzusammenhänge oder Therapieansatzpunkte erlangt werden.

Weitere diagnostisch-therapeutisch relevante Daten ergeben sich bei der genetischen Analyse des problematischen Verhaltens.

Die Entscheidung, ob es sich bei der "Ursache" des problematischen Verhaltens um ein Defizit, eine Störung, einen Konflikt oder ein Trauma handelt, kann nachträglich meist nicht mehr getroffen werden. Hinweise aus der Entstehungs- und Weiterentwicklungsgeschichte können jedoch bei der Entscheidung über die Auswahl von Ansatzpunkten und Veränderungsstrategien herangezogen werden.

Weitere wichtige Informationen ergeben sich aus der Analyse der therapeutischen Beziehung. Zeigen sich in der Interaktion Verhaltensmuster, die in einen Zusammenhang zum problematischen Verhalten stehen? Werden Übertragungsphänomene wahrnehmbar? Zeigt sich Widerstand?

Die Problemanalyse bildet der gemeinsame Versuch von Mitarbeiter oder Mitarbeiterin und Klient oder Klientin, einen Zusammenhang zwischen den einzelnen untersuchten Problemfeldern herzustellen.

Verschiedene Konstellationen sind dabei denkbar: So können einzelne Probleme in einem genetischen Zusammenhang stehen, verschiedene Probleme können einen gemeinsamen Ursprung haben, mehrere Probleme können einem anderen hierarchisch untergeordnet sein. Möglicherweise existieren auch gemeinsame Systemregeln.

Die Beantwortung dieser Fragen erleichtert die Auswahl von Veränderungsstrategien und Ansatzpunkten für den therapeutischen Veränderungsprozeß.

In der Bedürfnis- und Zielanalyse sind die Wünsche, Ziele und Hoffnungen des Klienten oder der Klientin relevant.

Wie klar sind sie, wie bewußt sind sie, wie gutartig oder bösartig sind sie, woraus schöpft er oder sie Energie, welche Werthaltungen und welche Beweggründe für die Therapie hat er oder sie und wie ist die Identität des Klienten oder der Klientin beschaffen?

Der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin und der Klient oder die Klientin erarbeiten gemeinsam die jeweiligen Einzelziele für einzelne Problembereiche. Dabei sind die Charakteristika der therapeutischen Beziehung von wesentlicher Bedeutung und sollten daher vor allem zu Beginn des therapeutischen Veränderungsprozesses immer wieder in ihrem Einfluß auf die Zielbildung abgeklärt werden. Auch mögen sich die Sichtweisen bezüglich der sinnvoll zu wählenden Ziele unterscheiden und damit eine Klärung erschweren.

4.4 Zielbildung

Zu Beginn des diagnostisch-therapeutischen Veränderungsprozesses ist die Zielbildung oft schwierig, die entwickelten Perspektiven sind vage, unklar und teilweise noch unbewußt. Wichtig sind hierbei formale sowie personenbezogene Faktoren und deren Einfluß auf den Veränderungsprozeß. Wird eine Veränderung der aktuellen Problemlage freiwillig angestrebt oder auf gerichtlichen, elterlichen, partnerschaftlichen Druck hin? Welche Erfahrungen hat der Klient oder die Klientin mit betreuenden Personen gemacht?

Weiterhin haben die Erwartung bezüglich des möglichen Veränderungsprozesses sowie die Motivation des Klienten oder der Klientin große Bedeutung für die Klärung von Zielen und Bedürfnissen.

Das Zusammenspiel der prozessualen Verhaltensdiagnostik mit der multiaxialen Symptom-Diagnostik erlaubt eine differenzierte Zielbildung im allgemeinen und die Bildung von Therapiezielen.

Ausgangsmotivation für Therapie ist immer die Schwierigkeit im Umgang mit sich, anderen und der Umwelt. Daher steht die Verbesserung der Interaktionsfähigkeit im Mittelpunkt jedes therapeutischen Handelns. Ausgangspunkt für die Zielbildung sind immer die Fragen nach dem, was den Klienten oder die Klientin zu „MOVE IT“ führt, was er oder sie sich von dem Aufenthalt erhofft und was dabei auf gar keinen Fall passieren soll. Jeder Klient und jede Klientin entwickelt eigene Zielhierarchien. Durch das bloße Verstehen wird dabei eine Situation oder ein Symptom bereits verändert.

Zielbildung ist Identitätsbildung und -stärkung. Zukunftshoffnung und Handlungsalternativen werden über stimmige persönliche Utopien entwickelt. Dabei dient folgende Zielbildungssystematik als Leitfaden und Orientierungshilfe:

  • Globalziele sind übergeordnete allgemeingültige Ziele wie die Förderung der Leibfunktionen und der Kontakt-, Begegnungs- und Beziehungsfähigkeit, die Integration abgespaltener Anteile der Persönlichkeit, sowie die Fähigkeit, sich selbst im Lebensganzen zu verstehen und sein oder ihr Leben gemäß der eigenen Persönlichkeit zu gestalten.
  • Persönlichkeitsorientierte Ziele konkretisieren sich in der Bedürfnisbildung und -wahrnehmung, in dem Verstehen einer Situation, in der Entwicklung von angemessenen Handlungsplänen, im Abbau innerer Blockierungen, in der Herstellung von Ausdrucks- und Handlungsvollzug, sowie in der Wahrnehmung von Beruhigung und Befriedigung im bestehenden Wertesystem.
  • Lebensweltorientierte Ziele ermöglichen das Erschließen und Wahrnehmen von Umweltressourcen.
  • Methodenbestimmte Ziele ergeben sich aus den verwendeten Methoden sowie aus den Bedingungen des Settings.

Eine sorgfältige Diagnostik stellt immer ein breites Spektrum möglicher Ziele und therapeutischer Methoden bereit. Der Verzicht auf bestimmte Ziele kann, wenn er unter Einsicht erlebt wird, ein wichtiger Bestandteil der Zielbildung sein. Enttäuschungen und quälender Entwicklungsdruck können dabei unter Zuhilfenahme von Bewältigungsstrategien vermieden werden.

4.5 Indikationsstellung

Wie können die einzelnen Therapieziele eines Klienten oder einer Klientin bestmöglich realisiert werden? Um eine angemessene Behandlung planen zu können ist es wichtig, Bezüge zwischen der Symptomatik (multiaxiale Diagnostik), der Lebenswelt, den Ressourcen, den Ursachen, den Probleme und den Bedürfnisse (prozessuale Diagnostik) und den Therapieziele herzustellen.

Bei der Indikationsstellung sind zwei Aspekte gleichermaßen von Bedeutung: Auf der einen Seite steht der Klient oder die Klientin mit seinem oder ihrem spezifischen Behandlungsbedarf, auf der anderen Seite steht „MOVE IT“ mit den Besonderheiten des Angebots. Aus und in der Interaktion zwischen diesen beiden Polen entwickelt sich die Indikation. Dabei muß „MOVE IT“ dem individuellen Rehabilitationsbedarf und den Bedürfnissen des Klienten oder der Klientin Rechnung tragen.

Die Indikation kann im Verlauf der Therapie mehrfach gestellt und ggf. modifiziert werden. Dies ermöglicht eine individualisierte und revidierbare Indikationsstellung, die den Wünschen und Möglichkeiten der Klienten und Klientinnen optimal Rechnung trägt.

4.6 Therapieplanung

Als praktisch-therapeutisches Handwerkszeug dient in der Therapieplanung die Frage nach dem, was gesund und funktionsfähig ist und erhalten werden sollte, was gestört und in seiner Funktion beeinträchtigt ist und restituiert werden muß, was defizitär, weil nicht vorhanden ist oder nie vorhanden war und bereitgestellt werden muß, sowie was möglich wäre, was noch nicht genutzt ist und erschlossen oder entwickelt werden könnte.

Zu Beginn einer jeden Therapiephase wird im Rahmen der Einzeltherapie die individuelle Betreuung beschrieben. In einem Therapievertrag werden die zu behandelnden Themen, die individuellen Strukturen (Regeln), die notwendigen Betreuungsangebote und die sich aus der Zielbildung ergebenden Zwischenziele festgelegt. Die Realisierung und Bewertung der vereinbarten Entwicklungsschritte werden von dem Klienten oder der Klientin und dem Mitarbeiter oder der Mitarbeiterin gemeinsam überprüft. So kann der Therapieverlauf auf seine Wirksamkeit hin überprüft und die Veränderung erfaßt werden.

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