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Übergangswohngemeinschaft

Konzeption 1995 der Übergangswohngemeinschaft für Drogenabhängige - Con-drobs e.V.

 

1 Hintergründe

Diese Konzeption dient in erster Linie den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Übergangswohngemeinschaft für Drogenabhängige (ÜWG) als Arbeitsgrundlage und Handlungsanleitung. Darüber hinaus stellt sie die Grundlage der Finanzierung dar und vermittelt ausführliche Informationen an die Fachöffentlichkeit. Eine Kurzdarstellung wird die wesentlichen Aspekte der Einrichtung in einer komprimierten Form vermitteln.

Seit 1987 drängen die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der ambulanten Einrichtungen der Drogenhilfe im Großraum München verstärkt auf die Erweiterung des Betreuungs- und Beratungsangebotes im ambulanten und teilstationären Bereich der Drogenhilfe. Das hier vorgestellte Projekt der ÜWG kann unter dem Schlagwort der Niederschwelligkeit subsumiert werden. Unter Niederschwelligkeit verstehen wir in diesem Zusammenhang die leichte Erreichbarkeit beim Eintritt, nicht aber Anspruchs-, Konzept- oder Niveaulosigkeit.

Grundidee einer Übergangseinrichtung war 1988, einen drogenfreien Lebensraum zu schaffen, in dem der individuelle Entschluß zu einem drogenfreien Leben gestärkt und bis zum tatsächlichen Therapieantritt aufrecht erhalten werden kann. In den ersten konzeptionellen Überlegungen zeigte sich jedoch, daß unter Übergang nicht eine Einbahnstras-se Richtung Langzeittherapie verstanden werden kann. Das Spektrum der Übergänge ist weitgefächert, so daß auch eine ÜWG mehreren Zielgruppen Angebote bereitstellen muß.

Im April 1990 begann die konkrete Planung und Konzeptionierung des Projekts. Fünf Monate später mietete der Verein Con-drobs e.V. zwei Doppelhaushälften eines Neubaus in Eglharting bei Ebersberg an. Zur gleichen Zeit nahmen drei Mitarbeiter und eine Mitarbeiterin ihre Arbeit auf. Am 08.10.1990 wurden die ersten drei Klienten der ÜWG aufgenommen; zum Jahresende 1990 bewohnten zehn Männer und Frauen das Anwesen.

Die ÜWG ermöglicht seitdem drogenfreien Abhängigen, die sich (noch) nicht zu einer stationären Therapie entschlossen haben oder auf eine solche warten, das sofortige Herausgehen aus der Drogenszene. Sie bietet Therapieabbrechern, ehemaligen Drogenabhängigen, die rückfällig zu werden drohen oder rückfällig geworden sind, und Süchtigen mit klaren sozialen und therapeutischen Perspektiven die Möglichkeit akuter Krisenhilfe in einer anderen, cleanen Wohn- und Lebenssituation. Alle Betreuungsangebote dienen der Entfaltung der individuellen Ressourcen und damit dem Ziel, Hilfe zur Selbsthilfe durch aktive Mitarbeit zu ermöglichen.

Zum 01.07.1992 wurde von Con-drobs e.V. die Finanzierung einer wissenschaftlichen Begleitung der ÜWG in Anbindung an ein anerkanntes wissenschaftliches Institut beantragt. Leider wurde diesem Antrag bis heute nicht entsprochen.

Durch die notwendige Intensität und Individualisierung der Betreuung der einzelnen Klienten und Klientinnen in der ÜWG wurde eine Differenzierung des Wohngemeinschaftsangebots nötig. Die geringe Kapazität und die verlängerten Aufenthaltszeiten ließen zudem den niederschwelligen Zugang verloren gehen.

1993 wurde von Con-drobs e.V. die Erweiterung auf insgesamt 36 Plätzen in der ÜWG beantragt und bewilligt.

Seit September 1993 ist die ÜWG eine Einrichtung mit sechs therapeutischen Gemeinschaften für jeweils sechs Männer oder Frauen. Vier der Häuser liegen am Jägerring 8, eines am Birkenweg 1 und eine weiteres am Kirchseeonerweg 1 in Eglharting. Die Büros und Gruppenräume befinden sich in einem seperaten Haus am Jägerring 8. Jeweils zwei therapeutisch erfahrene Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind für die Einzel- und Gruppenarbeit in einem Haus zuständig. Alle anderen Betreuungsangebote werden zentral offeriert.

Die Möglichkeit, 36 Klienten und Klientinnen in der ÜWG unterzubringen, konnte den Nachfragedruck zumindest teilweise befriedigen. Wesentlich mehr Drogenabhängige konnten eine kurzfristig erreichbare Alternative zur Drogenszene finden.

Das Projekt ÜWG wird über Pflegesätze (24 Plätze) durch den Bezirk Oberbayern und über eine Pauschale (12 Plätze) von dem Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung sowie dem Bezirk Oberbayern finanziert. Die Landeshauptstadt München steuert eine Mietausfallkostenpauschale bei. Die Klienten und Klientinnen aller Häuser sind für ihren Lebensunterhalt selbst verantwortlich und beteiligen sich anteilig an den laufenden Miet- und Mietnebenkosten.

Im Laufe des Jahres 1994 wurde der Bedarf an zwölf weiteren Plätzen für Menschen in akuten Krisensituationen deutlich. In der hier vorliegenden Konzeption wird die für 1995 geplante Erweiterung bereits unter der Zielgruppe Stabilisierungsphase für zwei Erlebnisgemeinschaften berücksichtigt. Damit wird Con-drobs e.V. konzeptionelle Überlegungen des Boot-Projekts von 1988 aufgreifen und in die bestehenden Angebote der ÜWG integrieren.

2 Zielgruppe

Zielgruppe der ÜWG sind Männer und Frauen jeden Alters, die unter einer psychischen und Verhaltensstörung in Form eines Abhängigkeitssyndroms durch Opioide, Kokain, Amphetamine, Barbiturate, Halluzinogene, Cannabinoide oder multiplen Substanzgebrauch leiden und sofort aus der Drogen- oder Haftszene aussteigen, sich stabilisieren, orientieren und Perspektiven für ihren weiteren Lebensweg entwickeln und realisieren wollen.

Die Diagnose Abhängigkeitssyndrom kann nur gestellt werden, wenn im Laufe des letzten Jahres mindestens drei der folgenden Kriterien erfüllt waren:

    nStarker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren

    nVerminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Substanzkonsums

    nSubstanzgebrauch, mit dem Ziel, Entzugssymptome zu mildern und der entsprechenden positiven Erfahrung

    nEin körperliches Entzugssyndrom

    nNachweis einer Toleranzentwicklung

    nEingeengtes Verhaltensmuster im Umgang mit der entsprechenden Substanz

    nFortschreitendes Vernachlässigen anderer Vergnügungen oder Interessen zugunsten des Substanzkonsums

    nAnhaltender Substanzkonsum trotz Nachweis eindeutiger schädlicher Folgen körperlicher, sozialer und psychischer Art

Dabei ist es nicht relevant, inwieweit sich die Diagnose Abhängigkeitssyndrom individuell hinsichtlich der gegenwärtigen Abstinenz ggf. in beschützender Umgebung, der Teilnahme an einem Substitutionsprogramm oder des ständigen bzw. episodischen Substanzgebrauchs differenziert darstellt.

Väter und Mütter können zusammen mit ihrem Kind ebenso wie Pärchen in die ÜWG aufgenommen werden, den nötigen Bezug erproben und vertiefen sowie eine realistische Lebensplanung entwickeln.

Die ÜWG ist eine Rehabilitationseinrichtung im Sinne des § 35 Abs. 1 BtmG, sie bietet eine sozialtherapeutische Behandlung an und ist von den zuständigen Kostenträgern anerkannt. Der Aufenthalt dient der Nachreifung der Persönlichkeit, dem Beginn einer straffreien Lebensbewältigung ohne Suchtmittel und damit ausschließlich der Wiedereingliederung in die Gesellschaft.

Eine staatliche Anerkennung gemäß § 36 Abs. 1 BtmG wurde und wird von Con-drobs e.V. nicht angestrebt, da sie automatisch und zwingend dazu führt, daß der Aufenthalt in der Einrichtung von vornherein auf die Strafe angerechnet werden muß. Dem entgegen steht die Erwartung, daß die Bereitschaft zur selbständigen Mitwirkung an der Rehabilitation und damit an deren Erfolgsaussichten größer ist, wenn der Aufenthalt nach erfolgreichem Abschluß der Therapie im Sinne des § 36 Abs. 3 BtmG angerechnet werden kann. Darüberhinaus können Klienten und Klientinnen mit einer Therapie- oder Bewährungsauflage in der ÜWG leben.

Die Angebote der ÜWG sind differenziert, sodaß bereits vor der Aufnahme eine selektive Indikationsstellung notwendig ist. Ein späterer Wechsel in eines der anderen Angebote ist im Sinne einer adaptiv zu stellenden Indikation möglich.

2.1 Stabilisierungsphase

In die Stabilisierungsphase der ÜWG (Erlebnisgemeinschaft) können Männer und Frauen aufgenommen werden, die sich in einer akuten Krise befinden, kurzfristige und konkrete Alternativen zur Droge suchen und sich die Grundlagen für weitere psychosoziale Hilfen (Beziehungsfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl, Frustrationstoleranz, Eigenverantwortung) erarbeiten wollen.

Grundlage der Zusammenarbeit ist dabei die Bereitschaft, daß sich der oder die Betreffende zumindest auf eine kurze cleane Lebensphase einlassen möchte. Die Frage nach weiteren Perspektiven tritt hinter das Ziel einer kurzfristigen Stabilisierung zurück. Inhaltlich steht die Minderung von Ängsten und Befürchtungen bezüglich einer weitergehenden Betreuung oder Behandlung, die Herstellung eines vertrauensvollen Verhältnisses zwischen dem Klienten oder der Klientin und dem Mitarbeiter oder der Mitarbeiterin, die Vertiefung des Problembewußtseins hinsichtlich der Abhängigkeitsproblematik, die Förderung von Veränderungsbereitschaft sowie die Benennung möglicher Therapie- oder Betreuungsziele im Vordergrund.

2.2 Orientierungsphase

Die Orientierungsphase der ÜWG ist in jeweils zwei Häuser für Männer und für Frauen am Jägerring 8 in Eglharting untergebracht und steht Menschen offen

    ndie ein cleanes Leben beginnen möchten

    ndie sich zu einer Therapie entschlossen haben

    ndie eine vorangegangene Therapie abgebrochen haben

    ndie nach einer vorangegangenen Therapie wieder rückfällig geworden sind

und sich Perspektiven für ihren weiteren cleanen Lebensweg erarbeiten möchten. Formale Voraussetzungen für die Realisierung individueller Ziele können abgeklärt, Wartezeiten sinnvoll genutzt, Ängste abgebaut, die Ausgangsmotivation verstärkt und klare Vorgaben erarbeitet werden.

2.3 Realisierungsphase

Männer und Frauen

    ndie in ihrem Leben Erfahrungen mit drogenfreien Lebenszeiten und Therapie hatten oder haben und rückfällig zu werden drohen oder rückfällig geworden sind

    ndie über klare Perspektiven in den Bereichen psychosoziale Betreuung, Schul- oder Berufsausbildung, Wohnform, Schuldenregulierung, soziales Umfeld und aktive Freizeitgestaltung verfügen und zur Verwirklichung dieser Perspektiven bzw. zu Beginn dieses Weges einen drogenfreien Lebensraum brauchen

    ndie eine Therapie abgebrochen haben und sich in dieser Zeit eine erfolgversprechende innere Basis für ein drogenfreies Leben geschaffen haben

können in die Realisierungsphase der ÜWG und damit in die zwei gemischtgeschlechtlich strukturierten Häuser am Birkenweg und Kirchseeonerweg in Eglharting aufgenommen werden.

Der Aufenthalt soll auf diese Menschen stabilisierend wirken, eine Klärung der Erlebnis- und Lebenssituation ermöglichen und gegebenenfalls den trotz des Abbruchs bzw. Rückfalls erreichten Therapieerfolg festigen. Durch die Auseinandersetzung mit Realitäten und der Begegnung mit Selbstverantwortung in einem anderen alltäglichen Rahmen können die Voraussetzungen für die Fortführung oder Wiederherstellung eines drogenfreien Lebens und persönliches Wachstums mit einem Mindestmaß an therapeutischen Methoden und Formen ohne langfristige Therapie auf individuellem Hintergrund erreicht werden. Damit kann ein massiver Rückfall in Abhängigkeiten, soziale Entwurzelung und Kriminalität verhindert und können erste Schritte in ein von Einrichtungen unabhängiges Leben mitgestaltet werden.

2.4 Aufnahme

Die Aufnahme in die ÜWG ist durch ein unbürokratisches Verwaltungsverfahren schnell und ohne vorherige Kostenzusage möglich.

2.4.1 Bewerbung

Menschen, die in die ÜWG aufgenommen werden möchten, können sich jederzeit telefonisch oder schriftlich bewerben. Dabei sind neben dem Namen, Vornamen, Geburtsdatum, Geburtsort und dem letzten Hauptwohnsitz auch Informationen über vorangegangangene Therapien und cleane Lebensphasen relevant. Darüberhinaus muß im Rahmen einer selektiven Indikationsstellung abgeklärt werden, in welchem Projektteil der Bewerber oder die Bewerberin aufgenommen werden soll.

Jeder Bewerber und jede Bewerberin soll sich nach dem Erstkontakt wöchentlich telefonisch oder schriftlich melden. Sobald in dem entsprechenden Projektteil ein Platz frei wird, kann ein Termin zu einem Vorstellungsgespräch vereinbart werden.

Menschen die schon einmal in der ÜWG gelebt haben oder von einem Projektteil in einen anderen wechseln möchten, können ohne Wartezeit ein Vorstellungsgespräch vereinbaren.

2.4.2 Vorstellungsgespräch

Voraussetzung für die Aufnahme in die ÜWG ist ein Vorstellungsgespräch, an dem neben dem Bewerber oder der Bewerberin auch Klienten und Klientinnen sowie Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Einrichtung teilnehmen. Neben bisherigen Erfahrungen mit Szene und Therapie ist die Biographie des Bewerbers oder der Bewerberin Thema. Letztlich ist die Eigenmotivation für einen Einzug in die ÜWG entscheidendes Kriterium für eine Aufnahmezusage.

2.4.3 Einzug

Am Aufnahmetag muß die Drogenfreiheit anhand einer Bescheinigung der stationären Entgiftungseinrichtung oder der Toxikologischen Abteilung im Klinikum Rechts der Isar in München (ambulante Drogenfreiheitskontrolle) nachgewiesen werden.

Con-drobs e.V. stellt jedem Klienten und jeder Klientin ein Bett, eine Matratze, ein Federbett, ein Kopfkissen, einen Schrank und ein Regal zur Verfügung. In jedem Zimmer befindet sich eine Lampe. Die Häuser sind zudem mit einer Küche, einem Eßtisch, Stühlen, einer Sitzgarnitur, einigen Grünpflanzen, einem Münzfernsprecher, ausreichend Töpfen, Pfannen, Geschirr, Besteck, Gläser und Küchenkleinteilen ausgestattet. Darüberhinaus steht den Klienten und Klientinnen eine Waschmaschine und ein Staubsauger zur Verfügung. Ausrüstung und Material, welches im Rahmen der „Erlebnisgemeinschaft“ benötigt wird, steht ebenfalls zur Verfügung.

Zur Aufnahme soll neben all den persönlichen Dingen ein Ausweis und ein Krankenschein mitgebracht werden. In der Verwaltung wird dann der Miet- und Betreuungsvertrag besprochen und unterzeichnet, die Anmeldung bei der Gemeinde und beim örtlichen Sozialhilfeträger vorbereitet und das Gepäck nach Alkohol, Medikamenten, Drogen oder Waffen durchsucht.

Im Laufe der ersten Aufenthaltswoche findet ein Erstgespräch mit dem zuständigen Einzeltherapeuten oder der zuständigen Einzeltherapeutin sowie dem Konsiliararzt für Psychiatrie und Neurologie statt, und wird eine gutachterliche Stellungnahme über die persönliche Lebensgeschichte und Diagnosen erstellt. Gleichzeitig meldet sich der neue Klient oder die neue Klientin bei der Gemeinde an und beantragt die Übernahme der Pflegekosten sowie ggf. Hilfe zum Lebensunterhalt beim örtlichen Sozialhilfeträger. Unter Umständen ist darüber hinaus ein Gang zum Arbeitsamt unerläßlich.

Die ÜWG kann bestenfalls einen Schritt in ein von Drogen unabhängiges Leben mitgestalten. Daher ist ein nahtloser Übergang zu anderen Betreuungsformen und der Abschied von der Einrichtung Voraussetzung für eine reguläre Entlassung.

3 Differenzierung

Durch die notwendige Intensität und Individualisierung der Betreuung des einzelnen Menschen in der ÜWG wurde die Differenzierung des Angebots nötig.

Die ÜWG ist in ihrer Gesamtheit eine Einrichtung, die sich in acht therapeutische Gemeinschaften mit je sechs Plätzen gliedert. So kann konzentriert mit speziellen Fragestellungen und Personengruppen gearbeitet werden, ohne daß die Differenziertheit des Angebots eingeschränkt werden muß.

Die Differenzierung der Wohneinheiten erfolgt primär nach der selektiven Indikationsstellung und sekundär (in Teilbereichen) nach dem Geschlecht.

3.1 ÜWG I (Erlebnisgemeinschaft)

Die Stabilisierungsphase der ÜWG ist im Sinne einer stationären Krisenintervention ab Herbst 1995 in zwei Erlebnisgemeinschaften mit jeweils sechs Plätzen für Männer und Frauen realisiert.

Im Unterschied zu den anderen Teilen der ÜWG leben die Klienten und Klientinnen nicht in Häusern in Eglharting, sondern befinden sich zusammen mit jeweils zwei Mitarbeitern oder Mitarbeiterinnen auf einer erlebnistherapeutischen Reise. In dieser natürlichen Lebenswelt werden gemeinsame Erlebnisse gesammelt und reflektiert, wird nach individuellen Lebensperspektiven und den sich daraus ergebenden Perspektiven gesucht und werden tragfähige Beziehungen zu anderen aufgebaut. Die eigene Biographie kann aufgearbeitet, Überforderungen und Lebensängste abgebaut und vermieden sowie Leistungsbereitschaft, Leistungsfähigkeit und Durchhaltevermögen trainiert werden. Dadurch kann eine adäquate Hilfe zur Stabilisierung der Persönlichkeit, zu einer weitergehenden Problembewältigung und zu einer sozialen Integration gefunden werden.

Jede der beiden Gruppen bestimmt den Ort ihres Aufenthalts und die jeweiligen Aktivitäten selbst. Ziel und Inhalt der Erlebnisgemeinschaften unterliegen einem ständigen Veränderungsprozeß, somit kann gezielt auf die Bedürfnisse der Teilnehmer und Teilnehmerinnen und der Gruppe eingegangen werden. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind weitgehend in die Gruppe integriert. Sie können lediglich Gruppenentscheidungen, die sie gegenüber der eigenen Fachlichkeit, der Öffentlichkeit, den Kostenträgern oder Con-drobs e.V. nicht verantworten können, mit einem Veto blockieren.

Übergeordnetes Ziel dieses Angebots der ÜWG ist die kurzfristige Stabilisierung nach einer vorangegangenen Krise in einer gänzlich anderen Lebenswirklichkeit. Durch die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen und den Gruppenmitgliedern können die Voraussetzungen für weitergehende therapeutische Maßnahmen geschaffen werden.

Dieses Angebot steht drogenabhängigen Menschen, die sich in einer akuten Krise befinden, durch die Parallelität der Anforderungen von Beruf, Ausbildung, Schule, Wohnen, Schuldenregulierung, Freizeitgestaltung, Beziehungspflege oder ggf. Therapie überfordert sind oder keine tragfähigen therapeutischen, partnerschaftlichen oder freundschaftlichen Beziehungen aufbauen können, offen. Diese Krisen und die damit einhergehenden Überforderungen lassen sich unter Aufrechterhaltung der Integration in normale Lebensbezüge oder Therapieen häufig nicht auffangen. In jedem seiner Lebensbereiche stößt der oder die Drogenabhängige dabei aufgrund seiner oder ihrer Problematik an Grenzen, erlebt Mißerfolge und reagiert entsprechend mit Rückzug, Vereinzelung, Vereinsamung und Rückfälligkeit. Dabei flieht er oder sie innerlich wie auch real aus und vor der Wirklichkeit.

Der Verlust der Droge wird gerade am Anfang einer abstinenten Lebensphase durch das Fehlen alternativer Verhaltensweisen deutlich erlebt. In dieser Phase des Verlusterlebens kommt es fast immer zu deutlichen depressiven Stimmungen, dem Gefühl von innerer Leere, Gereiztheit sowie Freud- und Hoffnungslosigkeit.

Eine solche Krise basiert immer aus einer mangelden Ausprägung von Identität und Persönlichkeit. Somit steht die Identitäts- und Persönlichkeitsnachbildung neben einer globalen Ziel- und Sinnfindung und der konkreten Lebensgestaltung im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen in den Erlebnisgemeinschaften. Dabei sind hochkomplexe und komplizierte Fragestellungen in Bezug auf einen sinnerfüllten Lebensentwurf unter Einbeziehung gesellschaftlicher Leistungsfähigkeit zu beantworten. Den vielschichtigen Anforderungen der Gesellschaft an ehemals Drogenabhängige können diese nur gerecht werden, wenn vorab in einem geeigneten Umfeld eine erfolgreiche Individualisierung, Sozialisation und Identitäts- sowie Persönlichkeitsnachbildung möglich war. Daher stellen die Erlebnisgemeinschaften besondere therapeutische und pädagogische Methoden zur Verfügung.

Drogenabhängige Männer und Frauen können direkt nach einer ambulanten oder stationären Entgiftung oder aber auch nach einem vorangegangenen Aufenthalt in einem anderen Teil der ÜWG, in einer anderen Rehabilitationseinrichtung oder in einer Nachsorgewohngemeinschaft in die Erlebnisgemeinschaften aufgenommen werden. Die Aufenthaltszeit in diesem Projektteil ist ebenfalls nicht begrenzt. Sie beträgt mindestens zwei Monate und kann jeweils um einen weiteren Monat verlängert werden. Damit können die Klienten und Klientinnen kurzfristig aus einer Krisen- und Überforderungssituation herausgehen, Anforderungen und Grenzen der bisherigen Lebenswirklichkeit für einen überschaubaren Zeitraum hinter sich lassen, Nähe, Geborgenheit und Wärme in Beziehungen zu anderen Gruppenmitgliedern und den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen erleben, am Modell der anderen lernen, innerhalb der erlebten „Ernst-Situation“ Ausweich- und Fluchtverhalten abbauen, das Durchhaltevermögen, die Frustrationstoleranz, die Leistungsbereitschaft und -fähigkeit steigern sowie in einem neuen und unkonventionellen Rahmen für die berufliche und soziale Integration notwendige Verhaltensweisen, Fähigkeiten und Fertigkeiten erlernen, erproben und integrieren.

Die Erlebnisgemeinschaften greifen methodisch auf Elemente der weiter unten beschriebenen Erlebnistherapie zurück. Dabei steht jedoch die Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung, nicht aber das bloße Erleben von legalen Kicks, von Glücksgefühlen und von aktiver Freizeitgestaltung im Vordergrund. Authentische Erlebnisse werden instrumentell und strukturell als Gegenentwurf zu „Erlebnissen aus zweiter Hand“ angeboten. Sie bieten reale Erfahrungen und haben „Ernstcharakter“. Die damit verbundenen Aufgaben fordern Entscheidungen und adäquate Handlungen und bieten wenig Raum für Flucht- und Vermeidungsverhalten. Strukturen, Regeln, Grenzen und Anforderungen ergeben sich nachvollziehbar aus der Situation und können somit als real erlebt und angenommen werden. Probleme können im „Hier und Jetzt“ gelöst und Problembewältigungsstrategien können erlernt werden. Die Auseinandersetzung mit einem Problem, einem Dritten, anderen Gruppenmitgliedern, Mitarbeitern oder Mitarbeiterinnen ist nicht vermeidbar und stellt ein Experimentierfeld für neues Verhalten dar. Unter Anleitung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, aber auch durch andere Gruppenmitglieder kann dies zu Erfolgserlebnissen führen, wodurch sich das Selbstvertrauen, das Selbstwertgefühl und das Selbstbewußtsein nachhaltig stabilisieren und sich die Frustrationstoleranz sowie das Handlungsrepertoir erhöhen läßt.

Neben der Identitäts- und Persönlichkeitsnachbildung auf der Grundlage von Selbsterfahrung in einer anderen Lebenswirklichkeit, ist der Transfer der neuen Erfahrungsinhalte in den Alltag besonders wichtig. Daher steht jedem Klienten und jeder Klientin der Erlebnisgemeinschaften die Aufnahme in einen anderen Teil der ÜWG offen. Selbstverständlich können die Klienten und Klientinnen der Erlebnisgemeinschaften nach Abschluß der Maßnahme auch im Rahmen einer intensiven ambulanten Nachsorge direkt in ihre noch bestehende Wohnung zurückkehren. In jedem Fall muß die Reflexion und das „Teilen“ der gesammelten Erfahrungen in einem betreuten Rahmen unter klaren Strukturen möglich sein.

Das therapeutische Setting in den Häusern der ÜWG in Eglharting trägt über die gezielt gestalteten Beziehungen und Bedingungen in sehr guter Weise dazu bei, daß die erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten aber auch die veränderte Identitäts- und Persönlicheitsstruktur in alltäglichen Lebensbezügen und unter „normalen“ Anforderungen übertragen, umgesetzt und realisiert werden können. Zentrale Aufgabe der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ist es, Verknüpfungen und Verbindungen zwischen realen Anforderungen und erworbenen Potentialen herzustellen und somit die Angst vor einer erneuten Überforderung durch das Zurückgreifen auf Erfahrungswissen und Handlungskompetenz zu verringern. Dies stützt wiederum die Identitäts- und Persönlichkeitsnachbildung, erweitert sie und ermöglicht die Entwicklung adäquater Reaktionsmuster auf gesellschaftliche Realitäten, Anforderungen, Werte und Normen.

Davon ausgehend, daß jeweils zwei Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen eine Erlebnisgemeinschaft begleiten, benötigt dieser Projektteil ein jährliches Deputat von 1460 Betreuungstagen (7,7 Stunden). Die durchschnittliche jährliche Arbeitszeit eines vollzeitbeschäftigten (38,5 Wochenstunden) Mitarbeiters oder einer vollzeitbeschäftigten Mitarbeiterin beträgt bereingt durch den Erholungs- (30 Tage) und Fortbildungsurlaub (10 Tage), 206 Tage bzw. 1586 Stunden.

Sieben sozialpädagogische und psychologische Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen müssen somit die beiden Erlebnisgemeinschaften betreuen. Sie wechseln sich in der Betreuung vor Ort so ab, daß jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin zwei Monate zusammen mit der Gruppe reist. Das zeitversetzte Wechseln gewährleistet die kontinuierliche Betreuung der Klienten und Klientinnen, sodaß diese sich nach jedem Monat lediglich auf einen neuen Mitarbeiter oder eine neue Mitarbeiterin einstellen müssen.

Die mit diesem Personalschlüssel und dem verhältnismäßig hohen Aufwand für Reisekosten verbundene Höhe des Pflegesatzes ist im Vergleich und in der Alternative zu einer Unterbringung in der Psychiatrie, einem Fach- oder Allgemeinkrankenhaus oder in einer JVA vertretbar. Dabei unberücksichtigt bleibt der volkswirtschaftliche Schaden durch einen zumindest vorübergehenden Rückfall, als Folge einer nichtbewältigten Krise und einer andauernden Überforderungssituation, in die Drogenabhängigkeit, Kriminalität und Prostitution. Darüberhinaus gewährleistet dieser Projektteil die adäquate Betreuung der beschriebenen Zielgruppe auf einem fachlich bedründeten Therapieansatz.

3.2 ÜWG II (Jägerring 8)

In den vier Häuser am Jägerring 8 in Eglharting steht jeweils sechs Männern oder Frauen ein gleichgeschlechtlicher Lebensraum, der von einem gleichgeschlechtlichen Therapeutenpaar oder Therapeutinnenpaar betreut wird, zur Verfügung.

Wir verbinden mit dieser Struktur den Versuch, qualifizierte, an den konkreten Lebenswelten orientierte geschlechtsspezifische Therapie in einem gemischtgeschlechtlichen und damit realen Kontext innerhalb einer Einrichtung zu realisieren.

Die Realität einer solchen Struktur unterscheidet sich maßgeblich von der einer stationären Therapieeinrichtung. Die kurze Verweildauer ermöglicht es nicht, sich an stabilen Leitfiguren zu orientieren, die Stabilität ist durch die zeitliche Nähe zur Szene oder zur Haft beeinträchtigt und die einrichtungsbedingte Fluktuation hat eine sich schnell verändernde und sich ständig neu formierende Gruppe zur Folge. Das bloße Warten in einer beschützten und versorgenden Umgebung wirkt nicht stabilisierend für den Entschluß, ein cleanes Leben zu beginnen. Vielmehr scheinen ein strukturiert angefüllter Tagesablauf und eine durch Offenheit und Konsequenz geprägte warme und annehmende Atmos-phäre den Kontakt und ein gutes emotionales Klima zu fördern. Das Maß der Selbstverantwortung und Selbstbestimmung darf den Stand der Persönlichkeitsentwicklung des oder der einzelnen nicht überfordern. Der ständig wirksamen Tendenz zur Isolierung und der damit verbundenen Kleingruppenbildung kann durch gezielte Interventionen entgegengewirkt werden, wodurch ein Rückfall in altbekannte Verhaltensweisen verhindert werden kann. Die Klienten und Klientinnen können allmählich lernen, Schwächen und Stärken in ihre Wahrnehmung zu integrieren. Der Einschränkung der persönlichen Freiheiten steht ein bewußt erlebtes Gemeinschaftsgefühl, in dem eigene Ängste und deren Überwindung erlebt werden können, gegenüber. Somit kann primär die Drogenfreiheit, sekundär aber auch die Therapiemotivation stabilisiert werden.

Durch das Spannungsfeld zwischen angemessener Anforderung und Bewältigung von neuen Aufgaben und Schwierigkeiten können Teile des verlorengegangenen Selbstbewußtseins und -wertgefühls wiedererlangt werden. Unterschiedliche Aspekte der eigenen Persönlichkeit werden ebenso wie zentrale Problematiken und Schwächen im Umgang mit der eigenen Person und anderen sichtbar und können kennengelernt werden. Damit wird die Flucht vor unerwünschten Anteilen nicht mehr als unausweichlich erlebt, Interesse an einer weitergehenden Auseinandersetzung kann gedeihen. Die Bearbeitung von konkreten Alltagskonflikten, des Arbeits- und Freizeitverhaltens und der Schwierigkeiten, die mit der ungewohnten Struktur des Lebensraumes einhergehen, bilden die Grundlage zu einer Standortbestimmung und zu einer Reflexion der bisherigen Geschichte. Ein Orientierungsprozeß kann beginnen, neue Wege können ausprobiert und Perspektiven für die weitere Gestaltung des eigenen Lebens entwickelt werden.

3.3 ÜWG III (Birkenweg 1, Kirchseeonerweg 1)

Am Kirchseeonerweg und am Birkenweg können jeweils sechs Männer und Frauen in einem Haus wohnen und ihre Perspektiven für ein eigenverantwortetes und von Einrichtungen unabhängiges Leben realisieren. Sie können zunehmend Ängste und Konflikte angemessen wahrnehmen und aktiv bewältigen, Freude und Trauer zulassen und ausdrücken und benötigen einen äußeren Rahmen, der allmählich auf die Alltagsanforderungen und Realitäten eines selbständigen Lebens vorbereitet. Daher ist Con-drobs e.V. bemüht, diesen Menschen einen konzeptionellen Rahmen, der Eigeninitiative und -verantwortung in den Mittelpunkt des Interesses rückt, zu bieten. Wir können in diesem Zusammenhang von einem umgekehrten Trichter sprechen, der allmählich immer mehr an Selbständigkeit und immer weniger an Struktur abverlangt bzw. vorgibt. Hierbei ist es wichtig, die Realitäten möglichst nah an die Bedingungen einer selbständigen Lebensführung anzupassen, um eine realistische Einschätzung der bevorstehenden Lebensphase zu ermöglichen.

Die Ablösung aus einrichtungsspezifischen Abhängigkeiten, die Weiterarbeit an in früheren Therapien angerissenen Themen, der Aufbau eines cleanen Freundeskreises, das Ausprobieren von Arbeits- oder Ausbildungsplätzen sowie etwaiger Schulausbildungen, das Finden von geeigneten Wohnformen, die Vermittlung weitergehender Betreuungsformen oder ambulanter Therapie und das aktive Erleben von Freizeit sind zentrale Themen in diesen Häusern.

Dabei stehen individuell formulierte und modifizierte Entwicklungsziele wie die Selbstverantwortung und -versorgung, eine breite Handlungskompetenz, die Stabilisierung des Lebensrhythmuses (geregelter Tagesablauf), der Aufbau und die Erweiterung von drogenfreien Lebensbezügen und Kontakten, eine realistische Finanzplanung, die berufliche und schulische Qualifikation, die Stabilisierung der Persönlichkeit und der Drogenfreiheit sowie der sozialen Integration in einer betreuten Wohnform und die damit mögliche Verbindung von Alltagserleben und pädagogischen und therapeutischen Angeboten im Vordergrund. Die Entwicklung und Verselbständigung kann entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand individuell gefördert und begleitet werden.

Die Klienten und Klientinnen können in diesem Rahmen die begonnenen Prozesse der Sozialisation, Integration und Reintegration durch Erweiterung des Verhaltensrepertoirs und die weitergehende Übernahme von Eigenverantwortlichkeit fortsetzen.

4 Therapeutische Prinzipien

Die Selbstorganisation macht unterschiedliche Dynamiken auf Seiten der Einrichtung und an den an ihr beteiligten Menschen deutlich. Die Niederschwelligkeit erleichtert die kurzfristige Erreichbarkeit. Der Realitätsbezug ermöglicht einen adaptiven Entscheidungsprozeß, in den unterschiedliche Phasen der Motivation, der Resignation und der Rückfälligkeit eingebettet sind. Erlebnistherapeutische und geschlechtsspezifische Ansätze ermöglichen die Entwicklung von Identität. Die Vernetzung mit anderen Angeboten der Drogenhilfe erlaubt den fließenden Übergang auf dem Weg zu einem drogenfreien Leben.

4.1 Selbstorganisation

Das Zusammenspiel verschiedenartiger Einflüsse läßt neue Organisationsformen der ÜWG aber auch der Persönlichkeit der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sowie der Klienten und Klientinnen entstehen. Diese Entwicklung, hier Synergetische Selbstorganisation genannt, entfaltet sich spontan im Spannungsfeld von Ordnung und Chaos und entwickelt dabei hierarchisch gestaffelte, ähnliche Strukturen von immer größer werdender Komplexität.

Der Austausch eines Systems mit der Umgebung hat ineinander verwobene materielle und trans-materielle Komponenten und ist durch Interaktionen gekennzeichnet. Wenn sich die Austauschprozesse mit der Umwelt entwickeln entsteht Struktur. Sie ist in jedem Moment die tragende Ordnung, gleichzeitig die immer umfangreicher werdende Bilanz bzw. Chronik eines Systems und gestaltet auf dieser Basis die weitere Zukunft des Selben. In der Struktur eines Systems schlägt sich die Beziehung zwischen allen Subsystemen, ihrer Bedeutung füreinander und die Art, wie sie funktionell zusammengehören nieder. Funktionen, die der Erhaltung des Systemganzen dienen sind einzelnen Subsystemen zugeordnet. Dadurch werden die Beziehungen der Subsysteme untereinander, zum Ganzen und zu der Umgebung bestimmt.

In ihrer Charakteristika sind die Strukturen auf jeder Stufe ähnlich. Jeder sich selbst synergetisch organisierende Prozeß hat seine eigene Identität.

In Chaosphasen entstehen These und Antithese zwischen Erlaubtem und Verbotenem. Als Ergebnis derartiger Umbauvorgänge kommt es schließlich zu einer vorher nicht möglichen Synthese, zu einer Integration von Gegensätzen auf einer hierarchisch höheren Ebene.

Somit installieren sich in den Strukturen der betroffenen Systeme neue hierarchische Ebenen. Das erlaubt eine Vielzahl neuer Vernetzungen und damit feinere Abstimmungen zwischen den Gegebenheiten. Dieser Komplexitätszuwachs ist das besondere Kennzeichnen synergetischer Prozesse.

Ein mehr an Komplexität eines Systems bedeutet entweder die Vermehrung von Sub-Systemen auf einer gegebenen hierarchischen Ebene oder die Vermehrung der hierarchischen Ebenen selbst, oder beides zugleich. Durch die Vernetzung aller Teile eines Systems können eintreffende Informationen besser verarbeitet werden.

Die Anreicherung von Erlebnisqualität kann als Produktion, die immer wieder notwendige Bündelung entstandener Vielfalt als Reduktion bezeichnet werden. Jede Produktion erhöht die Vielzahl der Vernetzungen und der Elastizität. Reduktion hingegen erhöht die Übersichtlichkeit und damit die Ökonomie. Beide Bewegungen ergänzen einander auf ein und derselben hierarchischen Ebene, also innerhalb einer Organisationsphase.

In der Therapie konzentrieren wir uns phasenweise auf bestimmte Subsysteme der Klienten-Persönlichkeit. Die Auswahl hängt dabei von der Art der Störung, der diagnostischen Einschätzung, der theoretischen Vorstellung und von unseren Handlungskonzepten sowie von der Erfahrung ab.

Offene Systeme, wie die der Drogenabhängigkeit, haben die Eigenschaft, sich über eine gewisse Zeit selbst zu erhalten. Sie durchlaufen dabei immer einen Prozeß, wobei jeder beschreibbare Zustand lediglich eine Momentaufnahme darstellt.

Dynamische Ordnung kennt kleinere Unregelmäßigkeiten, setzt jedoch die geregelte Abfolge im Austausch eines Systems mit seiner Umgebung sowie adäquate Übergänge zwischen einzelnen Zuständen des Systems voraus. Offene Systeme befinden sich nie in einem völlig stabilen, sondern immer in einem relativ labilen Gleichgewicht. Sie können aufgrund einer nicht vorhersehbaren Eigendynamik in ihrer Kausalität untypisch verlaufen. Deterministisches Chaos, in dem zwar Selbstähnlichkeiten, nicht aber lineare, das Gesamtsystem bestimmende Ursache-Folge-Beziehungen zu finden sind, entsteht.

Der Wechsel von Ordnung zu Chaos ist die Chance zu Veränderung und zu Umstrukturierung. Wenn der Austausch eines Systems mit seiner Umgebung nachhaltig gestört ist aber noch auf die bewährte Art funktioniert, kann durch ein minimales Zusatzereignis Synergetische Selbstorganisation als Übergangsphase zwischen den klar strukturierten Mustern des Vorher und Nachher entstehen. Dies wird als irritierend erlebt. Die zu erwartende Freude stellt sich erst ein, wenn die bisherige Ordnung aufgegeben und ein neues, komplexeres Gleichgewicht gefunden werden konnte.

Neuentwicklung und Synergetische Selbstorganisation ist nur im Zusammenspiel von Ordnung (Gesetzmäßigkeit) und Chaos (Zufall) sowie Kontinuität und Diskontinuität möglich. Die neue Gleichgewichtsgruppierung wird komplexer als die vorangegangene sein.

Das Konzept von offenen Systemen, die sich in ihrer Gesamtheit durch den Austausch mit der Umgebung über einen gewissen Zeitraum erhalten, während und obwohl gleichzeitig in ihrem Inneren ein ständiger Umbau stattfindet, ist für das Verständnis therapeutischer Prozesse ebenso bedeutsam wie der synergetische Prozeß, der durch einander abwechselnde Phasen von Ordnung, Chaos und neuer Ordnung gekennzeichnet ist. Begleitende Mechanismen versuchen die bestehende Ordnung auch dann noch zu erhalten, wenn sie sich aus vielerlei Gründen eigentlich schon überlebt hat.

Die Notwendigkeit von Abgrenzung und Austausch, ohne die wir nicht existieren und ein leidliches Gleichgewicht erlangen können, illustriert sich in offenen Systemen, die im Zuge ihrer Austauschprozesse mit der Umwelt hierarchisch gestaffelte ähnliche Strukturen bilden und dabei immer komplexer werden. Jedem Komplexitätszuwachs geht ein mehr oder weniger tiefreichender Zerfall der bisherigen Ordnung voraus. Dieser ständige Um- und Weiterbau geschieht spontan durch das Zusammenwirken verschiedener Faktoren und läßt sich weder von außen noch von innen durch bestimmte Pläne beeinflussen.

In diesem Sinne bedeutet Therapie Hilfe beim Aufgeben von überholten Strukturen, beim Aushalten von Chaos und bei der Entwicklung von neuer Selbstorganisation. Diese Vorgehensweise impliziert, Einstellung gegenüber Zuständen von Ordnung und Chaos kritisch zu überprüfen und ggf. neu zu definieren.

4.2 Niederschwelligkeit

Unter Niederschwelligkeit versteht die ÜWG den ungehinderten und schnell erreichbaren Zugang. In der Praxis heißt dies, daß Klienten und Klientinnen in die ÜWG aufgenommen werden, die noch vor wenigen Tagen auf der Drogenszene waren, nur kurzfristig ambulant oder stationär körperlich entgiftet wurden und nicht über Vorstellungen zur Lebensplanung und über Perspektiven für ein drogenfreies Leben verfügen. Die Aufnahme setzt keine hohe Therapiemotivation und keine endgültige Entscheidung gegen ein Leben mit Drogen voraus. Dennoch stellt die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit sich und anderen eine wesentliche Aufnahmevoraussetzung dar.

Die Mitarbeiterische Tätigkeit kann demnach häufig nicht auf einer bereits vorhandenen Einsicht und Struktur und auch nicht auf konkreten Zielen aufbauen. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen treffen häufig auf eine äußerst destruktive Lebenshaltung, die durch viel Selbsthaß, Verzweiflung, Resignation und Rückzug gekennzeichnet ist, aber auch auf Ressourcen, die bislang nicht oder nur unproduktiv genutzt werden konnten. Die Niederschwelligkeit beinhaltet eine große Nähe zur Drogenszene und zu deren Verhaltensmustern, ohne daß dabei der drogenfreie Rahmen und die Atmosphäre der Geborgenheit, der Sicherheit und der Freiheit aufgegeben wird. Dieses Spannungsfeld kann zu einer hohen Fluktuation der zu Betreuenden führen. Die Gruppenmitglieder, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen müssen sich fortwährend auf neue emotionale Beziehungen und Interaktionen einlassen und sind einem hohen Frustrationsniveau ausgesetzt.

4.3 Realitätsbezug

Viele Aktivitäten, Angebote und Betrachtungsweisen, aber auch die Einbindung in die Gemeinde regen die Auseinandersetzung mit Themen und Menschen außerhalb der ÜWG an. Damit wird die vergangene, aktuelle und zukünftige soziale Realität einer jeden Person in die ÜWG einbezogen; Realitätsnähe, die die sprunghaften und prozeßhaften Entwicklungen der Sucht integriert, kann erreicht werden. Damit können drogenabhängige Männer und Frauen durch persönliches Wachstum früh an eine drogenfreie Bewältigung gesellschaftlicher Lebensrealität herangeführt werden.

Der Klient oder die Klientin steht gleichzeitig mit einem Bein in der Therapie und mit dem anderen in seinem oder ihrem Leben. Er oder sie kann seinen oder ihren sozialen Verpflichtungen nachkommen und sich selbständig um den Aufbau einer neuen Existenz bemühen. Das drogenfreie Bewältigen von Alltagsanforderungen, das pünktliche und zuverlässige Einhalten von Terminen und Absprachen und die Forderung nach viel Eigeninitiative erfordert Entschlossenheit, Offenheit und Vertrauen in sich und andere.

Rückfälligkeit ist ein integraler Bestandteil jedes Ausstiegsprozesses aus einem Leben mit Drogen. Die ÜWG schließt weder strukturell noch inhaltlich Risikosituationen aus. Vielmehr steht die Exposition in vivo unter Einbezug aller Beteiligten im Vordergrund. Dabei setzt sich der Klient oder die Klientin gezielt persönlich relevanten Versuchungssituationen unter realistischen Alltagsbedingungen aus, um deren suchtmittelfreie Bewältigung zu üben.

Zudem ist es möglich, konkrete, mit der Illegalität des Drogenkonsums verbundene Schwierigkeiten wie Szenebeziehungen, Schulden oder Ämterangelegenheiten zu lösen und damit die omnipotente Angst vor der Unlösbarkeit dieser Probleme abzubauen. Damit werden häufig die zugrundeliegenden Probleme erst sichtbar und einer Bearbeitung zugänglich gemacht.

Die Orientierung und Begleitung nach draußen erfordert einen sehr intensiven Betreuungsprozeß, da die Auseinandersetzung ansonsten zu einer gedanklichen Flucht aus dem Hier und Jetzt der ÜWG werden könnte.

Die innere Motivation stellt unweigerlich die Frage nach der Sinnhaftigkeit und dem Ausfüllen der nach wenigen Tagen oder Wochen entstehenden inneren Leere. Innere Bereitschaft und Eigenmotivation kann nur entstehen und wachsen, wenn dabei die Sinnhaftigkeit einer drogenfreien Lebensführung nicht nur aufgezeigt, sondern auch erlebbar wird. Wenige Tage nach der Entgiftung erleben die meisten Klienten und Klientinnen eine massive angstauslösende innere Leere, die nur durch das Finden von Alternativen zur Droge ausgeglichen werden kann. Diese können darin bestehen, soziale, materielle oder ideologische Lebensziele zu finden, andere Formen der Bedürfnisbefriedigung auszuprobieren oder sich in der Gemeinschaft einen respektierten Platz zu suchen, in dem Unsicherheiten zu Sicherheiten werden und Geborgenheit und Wärme erlebt werden können.

Davon ausgehend, daß wir das Dogma der suchtfreien Gesellschaft nicht aufrechterhalten können, kann die ÜWG die Tolerierung süchtigen Verhaltens in der Grundhaltung nicht ausklammern. Bei vielen, vor allem langjährigen Drogenabhängigen treffen die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der ÜWG auf manifeste süchtige Strukturen. Diese werden als notwendiger Schutz vor Verletzung oder Enttäuschung und als individuelle Ressource respektiert und verstanden. Die Thematisierung und Problematisierung von Suchtverlagerungen ist hier einer restriktiven Einschränkung vorzuziehen. Süchtiges Verhalten zu tolerieren und zur Arbeitsgrundlage zu machen heißt nicht zwingend den Begriff Heilung außer Kraft zu setzen. Alternative, von gegenseitigem Respekt geprägte Zugangsmöglichkeiten können die Einsicht in solche psychodynamischen Prozesse fördern, die Auseinandersetzung damit anregen und einem Transfer in andere, alltägliche Lebensbereiche zugänglich machen.

Strukturelle Elemente der ÜWG lassen Entscheidungsfreiräume für das eigene Leben in weitem Maße zu. Defizitäre Betrachtungsweisen sind nicht geeignet, ungenutzte Potentiale und Ressourcen anzusprechen und zu aktivieren. Die Erforschung und Bearbeitung der Ursachen der Drogenabhängigkeit darf den Blick auf aktuelle, zur Aufrechterhaltung der Sucht beitragende Zusammenhänge nicht versperren.

Realitätsbezug meint aber auch immer die Integration bestehender Realitäten in das Leben in der ÜWG. Daher können Väter, Mütter und Paare zusammen mit ihren Kindern ebenso wie Schwangere aufgenommen werden. Für viele drogenabhängige Männer und Frauen stellt diese Möglichkeit erstmals eine adäquate Ausstiegshilfe dar. Die Entscheidung zu einer Therapie wird oft dadurch erschwert, daß sie ihre Kinder nicht im Stich lassen wollen und es ihnen nicht gelingt, für die Therapiezeit eine für sie akzeptable Betreuungsmöglichkeit zu finden. Trotz der Mehrbelastung für die Väter und Mütter halten wir die Freuden, Schwierigkeiten und neuen Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit dem Kind für einen wesentlichen Teil des Weges hin zu einem drogenfreien Leben.

Drogenabhängige Väter und Mütter können häufig kein konsequentes Erziehungsverhalten verwirklichen. So entstehen „Schaukelbeziehungen“ zwischen Vernachlässigung und Verwöhnung. Daher steht der Aufbau einer tragfähigen Vater- bzw. Mutter-Kind-Beziehung, die Abgrenzung von Bedrürfnissen des Vaters bzw. der Mutter und des Kindes und der Abbau von bereits entstandenen Entwicklungs-, Reifungs- und Erziehungsdefiziten bei den Kindern als zusätzliches Therapieziel im Vordergrund. Die Verantwortung für die Betreuung der Kinder verbleibt grundsätzlich bei den Vätern oder Müttern. Jeder Vater und jede Mutter kann zusammen mit seinem oder ihrem Kind in einem Zimmer leben.

Bei Schwangeren ist die Akzeptanz der oft unerwünschten Schwangerschaft und die Entwicklung realistischer Perspektiven für ein Zusammenleben mit dem Kind zentrales Thema.

4.4 Umgang mit Rückfällen

Die Klienten und Klientinnen sind für die Drogenfreiheit der Übergangswohngemeinschaft für Drogenabhängige mitverantwortlich. Ziel des Aufenthaltes ist es, ein größtmögliches Maß an Eigenverantwortung für sich, für andere und für das Haus zu übernehmen. Jeder Verdacht auf bzw. jedes Wissen um einen Drogen-, Medikamenten- oder Alkoholrückfall muß in einer Sondergruppe oder bei einem Teammitglied angesprochen werden.

Die offene, nach draußen orientierte Atmosphäre der ÜWG stellt keinen künstlichen und realitätsfernen Schutzraum gegen Rückfälle dar. Rückfälle können stattfinden, sie bedeuten nicht zwangsläufig den Abbruch der Beziehungen.

Das Auftreten dieses Symptoms der Drogenabhängigkeit bietet oftmals eine günstige Gelegenheit, die therapeutische Beziehung zu intensivieren. Die Aufarbeitung des Rückfalls kann durch die Auseinandersetzung mit den gerade aktuell sichtbar gewordenen Mechanismen unmittelbare Erkenntnisse und Einsichten bewirken.

Langzeitstudien des Christoph-Dornier-Centrums für Klinische Psychologie in Münster belegen eindrucksvoll, daß Rückfälle bei Drogenabhängigen in der Regel kein prinzipielles Scheitern bedeuten. Sie stellen vielmehr normale Vorgänge auf dem Weg zu einer lebenslangen Abstinenz dar und sind in erster Linie Ausdruck kurzfristiger Überforderung in konkreten Risikosituationen. Entsprechend muß nach einem Rückfall nicht wieder mit einer langwierigen Betreuung von vorne begonnen werden; vielmehr kann sich die Rückfallbehandlung gezielt auf die suchtmittelfreie Bewältigung von persönlichen Rückfallrisikosituationen konzentrieren.

Nach Bekanntwerden eines Rückfalls wird der Einzelbetreuer oder die Einzelbetreuerin in einem Einzelgespräch die Hintergründe aufdecken und Schuld- und Versagensgefühle auffangen. In einer anschließend stattfindenden Sondergruppe wird der Rückfall hinsichtlich der Art des Bekanntwerdens, der Geschichte, des Hintergrunds und der zugrundeliegenden Dynamik reflektiert. Alternative Verhaltensweisen, weitere Perspektiven und mögliche Hilfestellungen durch die Klienten und Klientinnen und MitarbeiterInnen der ÜWG werden besprochen. Dieses ausführliche Gruppengespräch dient auch der Verarbeitung der aufgewühlten Gefühle (Wut, Angst, Neid) der übrigen Gruppenmitglieder.

Innerhalb der ÜWG kann nicht mit Rückfällen gearbeit werden. Daher führt jeder Rückfall zu einer Entlassung. Ihm oder ihr steht die Möglichkeit zu einem Quereinstieg frühestens nach 14 Tagen (neues Vorstellungsgespräch mit Reflexion des Rückfalls) offen.

Jede, auch noch so kurze cleane Lebensphase ist wichtig und kann einen wertvollen Beitrag auf dem Weg in ein auf Dauer drogenfreies Leben sein.

4.5 Erlebnistherapie

Unter Erlebnistherapie subsumieren wir das Erleben von legalen Kicks und von Glücksgefühlen ebenso wie das Finden konkreter Alternativen zur Droge. Übergeordnetes Ziel aller erlebnistherapeutischen Angebote ist die Sinnfindung in einem Leben ohne Drogen.

Davon ausgehend, daß jeder Mensch in seiner Arbeit, seinen Beziehungen und in seiner Freizeit Befriedigung erlebt und dieses Erleben durch frühe Schädigungen oder durch den langandauernden Konsum psychotroper Substanzen bei Abhängigen gestört ist, muß die Drogenhilfe befriedigende Antworten auf die Sinnfrage anbieten und den oder die Abhängige dazu befähigen, selbst wieder Spaß, Befriedigung und Sinn an einem drogenfreien Leben zu erleben.

Jeder und jede Drogenabhängige kennt zum einen die euphorisierende und zum anderen die entspannende und angstmindernde Wirkung psychotroper Substanzen. In diesem Zusammenhang läßt sich Abhängigkeit einerseits als Streben nach Euphorie, andererseits als Vermeidung von dem Erleben von Sinnlosigkeit und innerer Leere verstehen. Der letztlich immer wieder fehlschlagenden Versuch, eine anfänglich durch den Konsum von Drogen erlebte Euphorie erneut zu erleben, führt ebenso wie die immer stärker werdende Angst vor dem Wiedererleben eigener Defizite, zu dem bekannten Phänomen des Wiederholungszwangs.

Das Prinzip der Erlebnistherapie greift die Sehnsucht nach euphorisierenden Erlebnissen und die Suche nach sinnstiftenden Alternativen zur Droge auf. Durch natursportliche Tätigkeiten, Interaktionsübungen und Projektarbeit vor der Haustüre oder am anderen Ende der Welt wird der ganze Mensch angesprochen, kann er oder sie Vertrauen zu sich und zu anderen finden und sich seiner oder ihrer Umwelt wieder bewußter werden. Ängste können abgebaut und bewältigt werden, er oder sie kann lernen sich anzuspannen und wieder zu entspannen und seine oder ihre Wahrnehmungsfähigkeit trainieren. Durch Grenzerfahrungen kann das Leben intensiviert, kann Unflexibles flexibel gemacht, und kann das Einlassen auf neue Situationen gefördert werden. Dabei werden soziale Gruppenprozesse ermöglicht und Probleme kreativ im Spannungsfeld von Handeln und Nachdenken gelöst. Die Erlebnistherapie verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz, in dem sie einerseits persönlichkeitsorientierte Ziele verfolgt und andererseits für den Klienten oder die Klientin Handlungs- und Regulationsmöglichkeiten für eine positive Lebensgestaltung im sozialen Umfeld vermittelt. In dieser Form konfliktorientierter Gruppenarbeit treten als auffällig anzusehende Verhaltensweisen und Eigenschaften häufig viel deutlicher zum Vorschein als in alltäglichen Situationen. So können Konflikte und Probleme, die am eigenen Leib spürbar und greifbar sind, konkreter erfahren und weiter bearbeitet werden.

Erlebnistherapeutische Aktionen bieten konkrete Hilfestellungen bei der Verhaltensänderung und der Entwicklung von Handlungsalternativen an. Ängstlichkeit kann durch die Überwindung einer Schonhaltung und des Aufbaus einer größeren Risikobereitschaft abgebaut, das Selbstgefühl durch die Wiedergewinnung von Vertrauen in die physische und psychische Leistungsfähigkeit und zu anderen Personen gesteigert und Aggressionen durch einen konstruktiven Umgang mit Konflikten abgebaut werden.

Nach jeder erlebnistherapeutischen Aktivität werden die gemachten Erfahrungen gemeinsam aufgearbeitet und deren Umsetzung in die Realität und den Alltag besprochen. Erlebnispädagogische Interaktions- und Initiativübungen ermöglichen in der Vetiefung und Nachbereitung vielfältige Möglichkeiten um die Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit sowie -bereitschaft in das reale Leben zu integrieren.

Am Anfang ihres Aufethalts in der ÜWG werden neue Klienten und Klientinnen dazu motiviert, sich an einfachen, weil passiven, erlebnistherapeutischen Angeboten wie Bungee-Jumping oder Tandem-Fallschirmspringen zu beteiligen. Hierbei können sie, ohne den Einsatz großer persönlicher Leistung, eigene Grenzen, bislang verborgene Gefühle von Angst und Erfolg sowie legale Kicks erstmals erleben. Aufgrund der extremen Situation fällt es den Klienten und Klientinnen leicht, die Existenz eigener Grenzen sich selbst und anderen gegenüber einzugestehen und das Gefühl von Angst auszudrücken. Trotz der starken Bezogenheit auf die eigene Person bleibt bei diesen Aktivitäten der Gruppenkontext, in dem das Erleben solidarisch geteilt werden kann, bestehen.

Im weiteren Verlauf bietet die ÜWG zahlreiche erlebnistherapeutische Aktivitäten wie Rafting, Snowboarding, Radwanderungen, Klettertouren oder Tauchgänge an. Diese Angebote setzen viel persönliches Engagement voraus. Das selbstversorgende Leben in einer kleinen Hütte oder unter freiem Himmel ermöglicht durch das Medium der konkreten Aktion neue körperliche, psychische oder spirituelle Erfahrungen. Dabei werden die Grenzen jedes Einzelnen sichtbar und erlebbar, gemeinsames Vertrauen zueinander wird möglich und Anforderungen an die Gruppe oder jeden Einzelnen können solidarisch gemeistert werden. Die Kraft und die Schönheit von Naturlandschaften kann von den Teilnehmern und Teilnehmerinnen als häufig neue und gemeinsame Erfahrung aufgenommen werden. Glücksgefühle werden durch das objektiv überprüfbare Erreichen eines vorher genau definierten Ziels unter dem Einsatz von Leistung erlebt. Daher ist das Prinzip "Leistung" der Erlebnistherapie evident. In diesem Rahmen können die Klienten und Klientinnen der ÜWG ein gemeinsames Ziel, wie z.B. die Umrundung Korsikas mit dem Fahrrad, festlegen und unter Einbeziehung individueller Ressourcen oder Grenzen erreichen. Dabei kann die Fähigkeit zu Toleranz, sich durchzusetzen, Kompromisse zu schließen sowie eigene und Grenzen von anderen zu respektieren entwickelt und trainiert werden. Im Spannungsfeld von Individualität und Gruppe wird Sozialverhalten und Leistungsbereitschaft erlernt. Solche Aktivitäten stabilisieren darüberhinaus das Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen der Teilnehmer und Teilnehmerinnen.

Gänzlich fremde Lebensbereiche und -formen werden durch große Freizeiten wie z.B. einer Saharadurchquerung oder einer Kilimanjarobesteigung und durch die 1995 zu schaffenden Erlebnisgesmeinschaften erschlossen. Neben dem weiter oben beschriebenen Erleben von legalen Kicks und von Glücksgefühlen steht bei diesen erlebnistherapeutischen Angeboten das Individuum als solches und im Kontext zu seiner Umgebung im Vordergrund. Durch die katalysierende Wirkung dieser Angebote werden persönliche Stärken und Schwächen sehr schnell sichtbar und können in der Auseinandersetzung mit einer anderen Lebenswirklichkeit in das Erleben der eigenen Persönlichkeit integriert werden.

Alle erlebnistherapeutischen Aktivitäten dienen dem „Leben als Erleben“ und sollen Zufriedenheit, Ausgeglichenheit, Genußhaftigkeit, Spaß sowie Sinnfindung vermitteln. Abhängigkeit ist eine Krankheit, die schwer zu behandeln ist, bei der es aber Erfolgschancen gibt. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der ÜWG müssen vor allem deutlich machen, daß ein gesundes drogenfreies Leben mehr Genuß vermittelt als jeder kurzfristige Kick durch psychotrope Substanzen.

4.6 Geschlechtsspezifische Arbeit

In der Erziehung wurden bei Männern die Schwerpunkte auf Stärke, Kompetenz, Aktivität, Unabhängigkeit und Selbstbewußtsein gelegt, während Frauen mehr Passivität, Emotionalität, Abhängigkeit und Bedürfnisbefriedigung anderer zugeordnet wurde. Dadurch ergeben sich zum Teil evidente Unterschiede hinsichtlich der Kriminalitätsbelastung, Prostitutionserfahrung und sexuellen Mißbrauchserlebnissen.

Mit diesen vorgegebenen Erfahrungen und Rollen treffen die beiden Geschlechter aufeinander und reagieren zunächst gemäß ihrer erlernten Erfahrungsmuster. Durch den Einsatz von abgestimmten Beratungs- und Betreuungsmethoden können gelebte Rollen verdeutlicht werden. Hierbei ist es wichtig, die Folgen und Reaktionen des Rollenverhaltens transparent zu machen und die Tragweite abschätzen zu lernen. Alternative Rollen werden von den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen und anderen Klienten und Klientinnen gelebt. Der oder die Einzelne kann Teile daraus in das eigene Verhaltensrepertoire übernehmen. Vielfältige Interventionsebenen werden gewählt. Dabei ist es wichtig, zwischen gemischt- und geschlechtsspezifischen Gruppen zu differenzieren.

Ein wesentlicher Bestandteil der geschlechtsspezifischen Arbeit sind Einzelgespräche. Zunächst ist es für jeden neuen Klienten und jede neue Klientin obligatorisch, einen gleichgeschlechtlichen Case-Manager oder eine gleichgeschlechtliche Case-Managerin zu haben. Wesentliche Inhalte der Einzelgespräche sind das Beheben von Informationsdefiziten, das Erkennen eigener Bedürfnisse, das Bestimmen der eigenen Identität und das Aufdecken und Beseitigen von Verhaltensdefiziten sowie das Fördern und Erproben alternativer Verhaltensweisen und der Erwerb sozialer Kompetenz.

In Zweierbeziehungen werden Rollenproblematik und diesbezügliche Verhaltensdefizite schnell sichtbar. In der ÜWG sind alle Formen von Beziehung (im Rahmen der Grundregeln) erlaubt. Durch das (Er-)Leben von Beziehungen werden die damit verbundenen Schwierigkeiten einer Bearbeitung erst zugänglich gemacht. Alte Beziehungsmuster werden erkannt und, um einen gleichgestellten festen Platz in einer von gegenseitiger Wertschätzung und Achtung geprägten Beziehung zu finden, im Rahmen neu gefundener Alternativen definiert.

Viele drogenabhängige Männer und Frauen mußten in ihrem Leben die schmerzliche Erfahrung machen, nicht als gleichgestellte Menschen ernstgenommen sondern als Sexualobjekt zur Lustbefriedigung anderer mißbraucht zu werden. Dabei blieben eigene Ängste und Bedürfnisse unberücksichtigt. Wichtige emotionale Beziehungen sind daher gestört. Den Jungen und Mädchen fehlte die positive Zuwendung wichtiger Beziehungspersonen. Häufig erlebten sie ohne Vorwarnung Gewalt, so daß sie jegliches Vertrauen in andere Menschen verlieren und kein positives Bild von sich aufbauen können. Sie fühlen sich minderwertig und entwickeln Schwierigkeiten in sozialen Bezügen.

Wenn ein Kind von einem Familienmitglied mißbraucht wird, kommt zu dem bitteren Gefühl der freien Verfügbarkeit und der Machtlosigkeit der enorme Vertrauensbruch hinzu. Durch das Schweigegebot wird das Kind mit seiner oder ihrer Verletzung allein gelassen und beginnt an der Richtigkeit seiner oder ihrer Gefühle zu zweifeln. Drogen helfen später zu vergessen und zu überleben.

Diese klaffende Wunde kann in der ÜWG in geschlechtsspezifischen Gruppen bearbeitet werden. In diesem, der Struktur der ÜWG evidenten Rahmen können Erfahrungen mit anderen ausgetauscht, eigene Bedürfnisse, Ängste und Schwierigkeiten wahrgenommen und kann Schutz vor süchtig machenden Bedingungen erlebt werden. In der Gruppe erspüren die Männer und Frauen gemeinsam die eigenen Fähigkeiten, versuchen ihre kreativen Potentiale zu nutzen und eine eigene positive Lebensperspektive zu entwickeln. Langsam kann sich Kraft und Gefühl für die eigene Identität bilden, Vergangenes und Traumatisches wird verarbeitet.

Ein erlebnisorientierter Ansatz in der geschlechtsspezifischen Gruppenarbeit kann Solidarität, Nähe, Geborgenheit und gegenseitige Unterstützung, ohne auf eine problemorientierte Sichtweise zurückgreifen zu müssen, fördern. In den vergangenen Jahren hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß Suchtentwicklung deutlich geschlechtsspezifisch bedingt ist. Die Hintergründe sind bei Frauen andere als bei Männern.

4.7 Vernetzung

Grundsätzlich ist es möglich, daß Klienten und Klientinnen eine bereits begonnene Therapie bei einem Psychotherapeuten oder einer Psychotherapeutin oder ein ambulantes Programm in einer Drogenberatungsstelle fortführen oder entsprechendes während ihres Aufenthalts beginnen. Voraussetzung dabei ist eine enge Kooperation der beteiligten Therapeuten und Therapeutinnen, so daß dieser Doppelkontakt nicht zum Nicht-Einlassen auf der jeweilig anderen Seite führt. Die intensive Begleitung der Klienten und Klientinnen durch die Drogenberatungsstellen ist ausdrücklich erwünscht. In Kooperation mit diesen können Round-table-Gespräche mit einem größtmöglichen Teil des Bezugssystems angeboten werden.

Klienten und Klientinnen, die nicht das Ziel einer stationären Therapie haben, sollen bereits vor ihrem Auszug aktiv in Nachsorgeprojekten oder Selbsthilfegruppen mitarbeiten. Selbsthilfegruppen sind eine wichtige Grundlage für ein drogenfreies Leben. Sie helfen wieder Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und fördern die Auseinandersetzung mit sich selbst. Die zeitliche Überlappung verschiedener therapeutischer Angebote ist sinnvoll.

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